20. Februar 2023 · Rubrik: Pestizide

Weltweite Pestizidvergiftungen im Fokus – TEIL 2

PAN Germany Pestizid-Brief 3 – 2023

Die Erhebung und Veröffentlichung der weltweiten unbeabsichtigten Pestizidvergiftungen durch Boedeker W, Watts M, Clausing P, Marquez E im Jahr 2020 hat weltweit große Aufmerksamkeit auf ein lange von der internationalen Gemeinschaft vernachlässigtes Thema gelenkt. Nach Auswertung von Vergiftungsdaten kamen die Forscher*innen zu dem Schluss, dass es jedes Jahr global rund 385 Millionen Fälle akuter Pestizid-Vergiftungen gibt. Neben dem Interesse an der Problematik an sich, hat die Studie auch Interesse an dem Zustandekommen der Zahlen geweckt. Der PAN Germany Pestizid-Brief erläutert daher in zwei Teilen das wissenschaftliche Vorgehen und das Zustandekommen der Studienergebnisse.

Teil 2 – Vergiftungsdaten – Erfassung und Qualität

1  Hintergrund

Die Vergiftung von Menschen durch Pestizide wird seit langem als ernstes Problem gesehen. Bereits 1990 schätzte eine Arbeitsgruppe der Weltgesundheitsorganisation (WHO), dass jährlich etwa eine Million unbeabsichtigte Pestizidvergiftungen auftreten, die zu etwa 20.000 Todesfällen führen. Noch dreißig Jahre später gab es keine Aktualisierung dieser Zahlen, obwohl der Pestizideinsatz weltweit gestiegen ist. Veranlasst durch das international Pestizid-Aktions-Netzwerk (PAN) wurde im Jahr 2020 eine Studie veröffentlicht, deren Ziel es war, die Anzahl akuten Pestizidvergiftungen neu zu bestimmen. Nach der Studie ist von jährlich weltweit etwa 385 Millionen Fällen von akuten, unabsichtlichen Pestizidvergiftungen auszugehen, darunter etwa 11.000 Todesfälle. Bei einer weltweiten landwirtschaftlichen Bevölkerung von etwa 860 Millionen bedeutet dies, dass etwa 44 % der Landwirte jedes Jahr durch Pestizide vergiftet werden.

Die Ergebnisse liegen deutlich über den früheren Schätzungen. Ursache hierfür dürfte sein, dass die Schätzungen der aktuellen Studie auf eine bessere Datenlage in vielen Ländern und der Berücksichtigung mehrerer Datenquellen basieren. Zudem hat sich der Pestizideinsatz weltweit inzwischen nahezu verdoppelt, sodass heute mehr Menschen Pestiziden ausgesetzt sind und sie durch häufigere Anwendung stärker exponiert sind.

Das wissenschaftlich fundierte Verfahren zur Ermittlung der Anzahl von Pestizidvergiftungen stellt hohe Anforderungen an die Datenbasis und Datenqualität. Im Folgenden wird ausgeführt, welche Datenquellen hierfür verfügbar sind und welche Herausforderungen sich für die Schätzung im Hinblick auf die Identifikation, Erhebung und Dokumentation von Pestizidvergiftungen stellen.

2  Herausforderung: Identifikation von akuten Pestizidvergiftungen

Pestizidvergiftungen gehen oft mit unspezifischen Symptomen wie Kopfschmerzen oder Übelkeit einher. Für die Identifikation von Pestizidvergiftungen ist es daher erforderlich, das Auftreten der Symptome in einen Zusammenhang mit der Exposition gegenüber Pestiziden zu stellen. Bei akuten Pestizidvergiftungen ist eine unmittelbare zeitliche Abfolge ausschlaggebend und die Latenzzeit von der Exposition bis zum Auftreten der Symptome ist entscheidend für die Identifikation einer Vergiftung. Würde eine zu kurze Zeitspanne gewählt, so könnten Symptome mit längerer Latenzzeit ausgeschlossen werden und eine Pestizidvergiftung unerkannt bleiben. Eine zu lang gewählte Zeitspanne dagegen könnte Symptome, die auf eine andere Ursache zurückzuführen sind, fälschlicherweise als Folge einer Pestizidexposition erfassen. Entsprechend besteht kein allgemeines Einvernehmen darüber, was eine akute Pestizidvergiftung ist. Häufig wird für die Identifikation von Pestizidvergiftungen auf ein Klassifizierungsinstrument des von der WHO eingerichteten Intergovernmental Forum on Chemical Safety (IFCS) zurückgegriffen . Eine akute Pestizidvergiftung ist nach dieser IFCS-Definition jede Erkrankung oder gesundheitliche Auswirkung, die auf eine vermutete oder bestätigte Exposition gegenüber einem Pestizid innerhalb von 48 Stunden zurückzuführen ist. Die IFCS-Definition stellt zudem beispielhaft für einige Pestizidwirkstoffklassen Symptome und Befunde zusammen, die mit einer Vergiftung einhergehen können. Für die einzelnen Organsysteme (z.B. Nervensystem) werden die Symptome nach hohem, moderaten und niedrigem Schweregrad unterschieden. Schließlich ermöglicht das IFCS-Klassifizierungsinstrument eine Einstufung der Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer Pestizidvergiftung, indem Kriterien für Exposition, Symptome/medizinische Befunde und deren zeitliche Abfolge zusammengestellt werden. Je nach Anzahl erfüllter Kriterien kann dann im Einzelfall von einer wahrscheinlichen, möglichen oder unwahrscheinlichen Pestizidvergiftung ausgegangen werden.

3  Herausforderung: Erhebung von akuten Pestizidvergiftungen

Schätzungen der Anzahl von Pestizidvergiftungen basieren zumeist auf Befragungen von Anwender*innen oder auf sogenannten Registerdaten. Während Befragungen in ausgewählten Bevölkerungsgruppen zu ausgewählten Zeitpunkten mit Hilfe vorab konzipierter Fragebögen vorgenommen werden, handelt es sich bei Registern um bestehende Datenbanken (z. B. Sterbefälle oder Krankenhausentlassungen), die oft für große Populationen über einen längeren Zeitraum angelegt sind.

3.1 Erhebungen durch Befragungen

Eine Standardmethode zur Erfassung von Pestizidvergiftungen ist die Befragung von ausgewählten Teilnehmer*innen. Die Zielsetzungen der Studien können sehr verschieden sein und entsprechend werden unterschiedliche Studiendesigns gewählt. Besteht das Interesse etwa lediglich darin, das Ausmaß und die Umstände von Vergiftungen in einer bestimmten Gruppe zu erfassen, so kann die Studienplanung geringere Anforderungen vorsehen als wenn auf Grundlage der Ergebnisse eine allgemeine Aussage oder gar eine Hochrechnung für anderen Gruppen erfolgen soll (siehe Beispiele für Studiendesign im Textkasten). Im letzteren Fall wäre eine repräsentative, ausreichend große und möglichst zufällig ausgewählte Stichprobe erforderlich. Tatsächlich zeigt die aktuelle Studie, dass die Mehrzahl der einbezogenen Studien mit Zufallsstichproben arbeitete, um eine gewisse Repräsentativität für die Studienpopulation zu erreichen. Die Studien richten sich zumeist mit einem Fragebogen direkt an die Teilnehmer*innen und bitten diese darum, aus vorab erstellten Symptomlisten diejenigen auszuwählen, die sie in einem bestimmten Zeitraum nach dem Anwenden von Pestiziden bei sich beobachtet haben. Die Symptomlisten und Fragestellungen beziehen sich häufig auf die IFCS-Definition von akuten Pestizidvergiftungen. Allerdings verwenden nicht alle Studien die gleichen Latenzzeiten, erfassen also z. B. nur Symptome unmittelbar nach dem Sprühen, innerhalb von 24 Stunden oder von bis zu einem Monat. Wenige Studien erfassen zudem so genannte Biomarker, z.B. das Enzym Cholinesterase, das von Organophoshat- und Carbamat-Pestiziden gehemmt wird, so dass eine Vergiftung zusätzlich zur Befragung anhand der Blutwerte der Betroffenen erkannt werden kann: Gelegentlich wird auch versucht, die Pestizide direkt z.B. im Blut der Befragten nachzuweisen. Solche Studienansätze sind indes wenig verbreitet, da hierdurch nur ein Teil der Pestizide erfasst werden kann und die Studien aufwändig und teuer werden.

Die Qualität, mit der Erhebungen geplant und durchführt werden, kann die Ergebnisse beeinflussen. So zeigte die Studie, dass in Erhebungen mit einer repräsentativen Stichprobe der Anteil der Vergiftungen geringer war als bei einfachen Stichproben. Wenn die Identifikation der Vergiftungen durch die Wissenschaftler erfolgte, war zudem der Anteil von Vergiftungen etwa 10 % niedriger als bei Erhebungen in denen die Teilnehmer*innen selbst berichteten.

Beispiele für Erhebungsmethoden bei Pestizidvergiftungen

  • Ohne Zufallsauswahl der Befragten
    “The field study was limited to a manageable geographical area where female cotton pickers are living and have a great potential to be exposed to pesticides. The villages selected on the willingness of the female workers that participate in the study … After preliminary survey two female groups (13–35 years of age) were selected as cotton pickers and non-pickers (30–37 female in each group) from the selected area.”[1]
  • “Participants were recruited with the assistance of community leaders, churches, and local groups in the study area. Letters were sent to each of these entities, which contained a clear explanation of reasons for the study, study objectives, inclusion criteria, consent to participate, and voluntary participation. These leaders and groups made announcements to the general public or community gatherings for a month. Those farmers who expressed interest in participation were invited to meet at the community leaders’ residence, group meeting locations, or church premises. At these meetings, the principal investigator reviewed the study and explained the content. If the farmer wished to participate, the consent form was signed, and the questionnaire was given to complete.”[2]
  • Mit Zufallsauswahl der Befragten
    “From a universe of approximately 3,500 subjects, a random sample of about 1,100 workers directly exposed to pesticides was performed, considering as such those subjects who mix/load and/or apply pesticides.… As mentioned, applicators are professional workers authorized by the Agriculture, Livestock and Food Ministry to perform their tasks. They usually work in several extensive crops in the same area of the province, as independent professionals (the owners of the machinery) or as employees of an agrarian company.”[3]
  • “The 2005 and 2006 surveys were conducted by a market research company and included 6,359 users in 24 countries … Approximately, 250 users were sampled from each country. In each country, a local market research team identified regions where the use of pesticides was moderate to intensive… The selection of respondents was on the basis of quota sampling and targeted users on smallholdings of below average size and contract spray operators in countries where there were significant numbers of such users. The local market research teams designed their target smallholder farmers in terms of farm size and typical crops grown. Screening questions were used to ensure that the sample satisfied the quota requirements.”[4]
  • “The target population of this survey included male farmers residing in rural areas in South Korea. The sampling frame for this survey was constructed by use of 2010 Korean Agricultural Household Registry data. Primary sampling units were formed out of the local administrative districts. We stratified primary sampling units into three strata based on three variables, which were the number of farm households, the farm household population by age group (<15, 15–65, >65) and the proportion of households residing in apartments. The selection of a 3% limit of error in the estimate yielded a needed sample size of roughly 2,000. A total of 197 primary sampling units were selected by probability proportional to size sampling method. In the final sampling stage, the sample size in a primary sampling unit was 10. Trained interviewers visited each selected household and explained about the study.”[5]

3.2 Erhebungen durch Register

Unter Register versteht man strukturierte Datensammlungen, die etwa Teil der amtlichen Statistik (z.B. Todesursachenstatistik) sein können oder zur Erfassung und zum Monitoring von Krankheiten eigens eingerichtet wurden (z.B. Krebsregister). Als Registerdaten bezeichnet man auch solche Daten, die primär etwa zu Abrechnungszwecken erhoben werden und sekundär für Fragen des Gesundheitsmonitorings und der Gesundheitsforschung herangezogen werden (z.B. Krankenhausentlassungen, Arbeitsunfähigkeit, Berufskrankheiten). Registerdaten kennzeichnet, dass sie standardisiert erfasst, über längere Zeiträume und für verschiedene Regionen und Bevölkerungsgruppen vorliegen.

In einigen dieser Register sind auch Angaben zu Pestizidvergiftungen enthalten oder diese wurden eigens zum Monitoring von Pestizidvergiftungen angelegt. Die eigentliche Identifikation von Pestizidvergiftungen erfolgt aber immer bereits vor Erfassung der Daten, nämlich z.B. bei der Behandlung im Krankenhaus oder der Leichenschau. Werden Pestizidvergiftungen auf ärztlichen Dokumenten spezifiziert, so muss davon ausgegangen werden, dass hierfür hinreichende medizinische oder forensische Evidenz vorgelegen hat. Registerdaten zu Pestizidvergiftungen basieren daher vornehmlich auf einer verlässlichen Identifikation von Vergiftungsfällen.

Gleichzeitig ist davon auszugehen, dass Pestizidvergiftungen in Registern untererfasst sind, da sie von einer Dokumentation der Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten und der Effektivität von Meldesystemen abhängen. Beides ist in vielen Ländern der Welt nur begrenzt vorhanden. Die Inanspruchnahme wird dadurch behindert, dass Personen, die an einer akuten Pestizidvergiftung leiden, aus einer Vielzahl von Gründen oft keine medizinische Versorgung erhalten. Fehlende Transportmöglichkeiten, fehlende medizinischer Einrichtungen, mangelnde finanzielle Mittel, sprachliche und kulturelle Barrieren oder der Angst vor dem Verlust der bezahlten Arbeit sind hierfür bekannte Barrieren. Die länderspezifischen Meldesysteme können weitere Ursachen für die Untererfassung sein, darunter das Fehlen einer allgemeinen, verbindlichen gesetzlichen Pflicht zur Meldung von Vorfällen, oder eine regionale Eingrenzung. Schließlich ist eine erhebliche Untererfassung von arbeitsbedingten Pestizidvergiftungen zu erwarten, weil die entsprechende Klassifikation der Krankheiten, der sogenannte ICD-Schlüssel, (ICD für englisch: International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) nicht verwendet oder entsprechende Daten nicht gemeldet werden.

4  Herausforderung: Dokumentation und Verschlüsselung akuter Pestizidvergiftungen

Nachdem Pestizidvergiftungen als solche erkannt worden sind, stellt sich die Frage der Benennung und Dokumentation. Hierfür wird auf Systematiken zurückgegriffen, die Krankheitsbilder nach feststehenden Kriterien bezeichnen und hierarchisch gruppieren. Die Internationale Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme der WHO (ICD) ist die weit verbreitete und insbesondere für Registerdaten übliche Systematik, die derzeit noch in ihrer 10. Revision (ICD10) verwendet wird. Die ICD10 ermöglicht nicht nur eine je nach Verwendungszweck unterschiedliche Differenzierung, sondern auch die Kennzeichnung, ob eine Pestizidvergiftung vorsätzlich oder unabsichtlich erfolgte (vgl. Tabelle). Über eine weitere Verfeinerung des ICD-Schlüssels lässt sich z.B. auch ein Ort an dem sich der Vorfall ereignete, hinzufügen. ICD10-Code „X487“ steht für landwirtschaftliche Betriebe, umfasst jedoch nur Gebäude und Anbauflächen, nicht aber Wohnhaus und Hausgrundstück. Die Kodierung des Ortes von Vergiftungen hängt von Kontextinformationen zu den spezifischen Vergiftungsfällen ab; diese Daten stehen der kodierenden Einrichtung jedoch häufig nicht zur Verfügung.

Die Eignung der ICD10 zum Monitoring von Pestizidvergiftungen ist begrenzt, da nur wenig Wirkstoffgruppen (vgl. Tabelle) explizit erwähnt sind und damit eine Identifikation besonders bedeutsamer Wirkstoffe nicht erfolgen kann. Die ICD10 regelt auch nicht, in welcher Tiefe eine Verschlüsselung zu erfolgen hat oder in welcher Reihenfolge mehrere Krankheiten verschlüsselt werden. Dies wird durch die jeweiligen Register und Statistiken vorgegeben und richtig sich im Wesentlichen nach dem primären Verwendungszweck. In der deutschen Krankenhausentlassungsstatistik etwa kann nicht zwischen suizidalen und unabsichtlichen Vergiftungen unterschieden werden. Auch die Verschlüsselungsprinzipien sind unterschiedlich. So wird in der Todesursachenstatistik die sogenannte Grunderkrankung kodiert, also die Erkrankung, die direkt zum Tod führte. Im Gegensatz dazu wird in der Krankenhausentlassungsstatistik die Einweisungsursache als so genannte Hauptdiagnose erfasst. So könnte möglicherweise eine tödliche Pestizidvergiftung nach einer depressiven Episode in der Sterbeurkunde als depressive Störung und in der Krankenhausentlassungsstatistik als Pestizidvergiftung kodiert werden.

Am 1. Januar 2022 ist die neuste ICD Version, ICD-11, in Kraft getreten. Im Vergleich zu früheren Versionen bietet die ICD-11 völlig neue Möglichkeiten für die Kodierung von Krankheiten. Durch die Einführung sogenannter Erweiterungsschlüssel ist eine sehr detaillierte Erfassung von Informationen auch bei Vergiftungen möglich. Die Erweiterungsschlüssel umfassen bei Pestiziden auch eine große Anzahl von einzelnen Wirkstoffen, wodurch das Monitoring von Pestizidvergiftungen deutlich verbessert werden könnte. Allerdings ist derzeit noch nicht klar, ob die Erweiterungsschlüssel zwingend etwa in der Todesursachenstatistik geführt werden müssen. Die Umsetzung der ICD-11 setzt in allen Ländern die Änderung einer Vielzahl von Meldesystemen voraus, die Verwendung der ICD-11 wird daher erst in etlichen Jahren erfolgen.

Tabelle: ICD10-Schlüssel zur Kennzeichnung von Pestizidvergiftungen

T60 Toxische Wirkung von Schädlingsbekämpfungsmitteln (Pestiziden) inkl. Holzschutzmittel
T60.0 Organophosphat- und Carbamat-Insektizide
T60.1 Halogenierte Insektizide (exkl. Chlorierte Kohlenwasserstoffe
T60.2 Sonstige Insektizide
T60.3 Herbizide und Fungizide
T60.4 Rodentizide Thallium (exkl. Strychnin und dessen Salze)
T60.8 Andere Schädlingsbekämpfungsmittel
T60.9 Schädlingsbekämpfungsmittel, nicht näher bezeichnet
X48 Akzidentelle Vergiftung durch und Exposition gegenüber Schädlingsbekämpfungsmittel (Pestizide)
X68 Vorsätzliche Selbstvergiftung durch und Exposition gegenüber Schädlingsbekämpfungsmittel

 

Quelle: International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems 10th revisions.  https://icd.who.int/browse10/2016/en#/XIX

5  Schlussfolgerungen

Die Ermittlung der Anzahl der weltweiten vorkommenden Pestizidvergiftungen hängen von der Qualität der Datenquellen und der Vollständigkeit der Datenbanken ab. In wie weit es durch die beschriebenen Herausforderungen zu einer Über- oder Unterschätzung von akuten Pestizidvergiftungen kommt, lässt sich nicht grundsätzlich beurteilen. Aus den beschriebenen Gründen muss allerdings zumindest bei den Registerdaten von einer Unterschätzung ausgegangen werden. Derzeit reichen weder die Daten aus Registern noch aus Befragungen aus, um Unsicherheiten bei der Ermittlung der globalen Vergiftungszahlen auszuschließen. Es fehlt an qualitativ hochwertigen Daten, die alle Länder und Pestizidanwendung abdecken.

Die bestehenden internationalen Datenbanken – wie die über Todesfälle der WHO- sind unvollständig, weil sich nicht alle Länder hieran beteiligen oder ungenau erfasste Daten liefern. Hier sollte verstärkt über die internationale Gemeinschaft Einfluss genommen werden und Länder beim Kapazitätenaufbau unterstützt werden. Nationale Register, die sich auf Krankenhausdaten oder Giftnotrufzentralen stützen, sind oft nicht vollständig, weil sie lediglich bestimmte Regionen oder Meldeanlässe abdecken. Auch sind in den Datenbanken zumeist keine Angaben über Berufe oder zu Kindern zu finden, was für ein wirkungsvolles Vergiftungsmonitoring erforderlich wäre. Die verwendeten Dokumentationssysteme, wie die ICD10, sind für Pestizidvergiftungen nicht ausreichend ausgestaltet, da eine Identifikation relevanter Wirkstoffe und -gruppen nicht möglich ist. Die bestehenden Register zu Pestizidvergiftungen sollten daher dahingehend geprüft und so erweitert werden, dass auch ausreichende Differenzierungen möglich werden. Die internationale Gemeinschaft sollte auf eine zeitnahe Umsetzung der ICD-11 mit verbindlicher Nutzung der Erweiterungsschlüssel hinwirken.

In vielen Ländern gibt es keine Befragungen zu Vergiftungen bei Pestizidanwender*innen. Darüber hinaus fehlt bei Erhebungen eine standardisierte Falldefinition für akute Vergiftungen. Zudem mangelt es an prospektiven Studien, um langfristige Auswirkungen akuter Vergiftungen zu untersuchen. Eine Verbesserung der Datenbasis würde ein regelmäßiges und zuverlässiges Monitoring von Pestizidvergiftungen ermöglichen und die Einschätzung präventiver Maßnahmen unterstützen. Eine entsprechende Forschungsförderung zur Durchführung epidemiologischer Studien sollte erfolgen.

Zu den Ländern mit defizitärer Datenlage gehört auch Deutschland. So konnte in die aktuelle Studie zur Ermittlung der weltweiten unbeabsichtigten Pestizidvergiftungen lediglich Angaben aus der deutschen Todesursachenstatistik einbezogen werden, obwohl die Krankenhausentlassungsstatistik eine Vielfach höhere Anzahl tödlicher Pestizidvergiftungen ausweist. Diese Daten sowie Angaben aus den Giftinformationszentralen mussten unberücksichtigt bleiben, da keine ausreichende Differenzierung in der Statistik möglich ist (z.B. Unfall oder suizidal). Auch das Meldesystem der ärztlichen Mitteilungen bei Vergiftungen, die zwingend durch das Chemikaliengesetz vorgeschrieben sind, ist höchst defizitär. Diese Statistik ist durch eine massive Untererfassung der Fälle und unzureichender Dokumentation und Auswertung gekennzeichnet. Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BFR) hat die Berichterstattung auf Basis dieser Meldungen bereits vor etlichen Jahren ersatzlos eingestellt.[6] Für Deutschland gibt es zudem keinerlei Befragungen zu den gesundheitlichen Auswirkungen des Einsatzes von Pestiziden.

Die verfügbaren Datenquellen und deren Auswertung machen trotz aller Defizite bereits jetzt deutlich, dass Pestizidvergiftungen ein immenses internationales Gesundheitsproblem darstellen, das sofortiges politisches Handeln erfordert. Die in den letzten Jahren international unternommenen Anstrengungen, Programme zur Verbesserung der Sicherheit bei der Verwendung von Pestiziden aufzulegen, haben offenbar nicht zu einer ausreichenden Verbesserung geführt. Es bedarf größerer Anstrengungen beim Umbau zu einer ökologischen Landwirtschaft. Denn es ist klar: Am effektivsten lassen sich Pestizidvergiftungen vermeiden, wenn keine Pestizide eingesetzt werden.

(Dr. Wolfgang Bödeker)

Teil 1 des Beitrags erschien im Pestizid-Briefs Nr 2 – 2023. Beide Teile des Beitrags stehen in einem Gesamtdokument auch hier zum Download bereit.

[1] Tahir S, Anwar T. Bull Environ Contam Toxicol. 2012 Dec;89(6):1138–41.

[2] Tandi TE, Wook CJ, Shendeh TT, Eko EA, Afoh CO. Health. 2014;06(21):2945–58.

[3] Butinof M, Fernandez RA, Stimolo MI, Lantieri MJ, Blanco M, Machado AL, et al. Cad Saude Publica. 2015 Mar;31(3):633–46.

[4] Tomenson JA, Matthews GA. Int Arch Occup Environ Health. 2009 Aug;82(8):935–49.

[5] Lee WJ, Cha ES, Park J, Ko Y, Kim HJ, Kim J. Am J Ind Med. 2012 Sep;55(9):799–807.

[6] https://www.pan-germany.org/download/pestizid-brief/PB1_2016_Vergiftungen_%20%C2%A716e_Meldungen_F.pdf

 

 

Foto: Fernando Ramirez