21. April 2020 · Rubrik: Pestizide

Neue wissenschaftliche Publikation kritisiert bestimmte Praktiken der Pestizid-Risikobewertung angesichts der „Farm to Fork“-Strategie und REFIT

„Grüner Aufschwung“ nach COVID-19-Krise erfordert gesundes und nachhaltiges Ernährungssystem

Pressemitteilung des Pestizid Aktions-Netzwerks (PAN Germany), Hamburg.

Kontakt: Dr. Peter Clausing, PAN Germany +49 176 4379 5932; peter.clausing@pan-germany.org

(Hamburg, 21.4.2020 ) Eine neue wissenschaftliche Publikation, die von einer Gruppe von Experten aus den Bereichen Recht, Politik und Toxikologie veröffentlicht wurde, hat Mängel aufgezeigt, die dem europäischen Prozess der Risikobewertung von Pestiziden innewohnen.

Die Experten haben in ihrer Veröffentlichung umfassende Vorschläge für eine Reform der Risikobewertung unterbreitet, um zu vermeiden, dass die identifizierten Mängel zu einer ernsthaften Untergrabung der Bestrebungen für eine nachhaltige Landwirtschaft und eine „grüne Erholung“ von der COVID-19-Pandemie führen.

Forderungen nach einer solchen „grünen Erholung“ wurden kürzlich von 13 europäischen Umweltminister*innen, sowie 180 politischen Entscheidungsträger*innen, Wirtschaftsführer*innen, Forscher*innen und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) erhoben. Man war sich einig, dass „business as usual“ – die Rückkehr zum alten umweltbelastenden Modell wirtschaftlichen Fortschritts – keine Option ist.

Regulatorisches Versagen

Dem neuen Papier zufolge, das im European Journal of Risk Regulation erschien, vernachlässigen die EU-Behörden regelmäßig die Umsetzung bzw. Einhaltung ihrer eigenen Pestizid-Vorschriften. Während die EU-Pestizid-Verordnung 1107/2009 theoretisch eine der strengsten der Welt ist, hat sie ihr Ziel „einer unabhängigen, objektiven und transparenten Bewertung“ mit dem Ziel „ein hohes Schutzniveau für die Gesundheit von Mensch und Tier sowie für die Umwelt sicherzustellen“ noch nicht erreicht. Die vorgelegte Publikation enthält weitreichende Empfehlungen zur Lösung dieser Probleme. Dabei dient Glyphosat als Fallstudie wissenschaftlicher und regulatorischer Kontroversen. Das betrifft

  • den weit verbreiteten Missbrauch und die Fehlinterpretation wissenschaftlicher Ergebnisse, verbunden mit einer selektiven Bevorzugung von „günstigen“ Studien, Plagiaten sowie die unkritische Präsentation von Ergebnissen, die als unabhängig dargestellt werden, und ferner den Missbrauch statistischer und analytischer Verfahren;
  • das kontinuierliche Versagen, Effekte von Pestizidgemischen, inklusive Zusatzstoffen, angemessen zu berücksichtigen, obwohl diese das Toxizitätsprofil eines Wirkstoffs verändern können. Eine Berücksichtigung dieser Effekte bei der Genehmigung von Wirkstoffen ist überfällig;
  • die ungenügende Behandlung von Interessenkonflikte innerhalb der Aufsichtsbehörden, wodurch die Unabhängigkeit und Objektivität der Pestizidbewertungen untergraben wird.

Als Folge dieser Versäumnisse durchliefen etliche Pestizidwirkstoffe erfolgreich den Genehmigungsprozess, trotz ihres Potenzials, Mensch, Tier und Umwelt zu schädigen.

Vorgeschlagene Lösungen

Den Autoren zufolge ist das Gesetz selbst kaum der Grund für diese Mängel. Vielmehr liegt das Problem in der fehlenden Umsetzung bzw. konsequenten Anwendung  der geltenden Regeln und Richtlinien durch die Regulierungsbehörden.

Die Autoren schlagen Verbesserungen zur Durchführung der Risikobewertung seitens der Regulierungsbehörden vor.  Dazu zählt die Art und Weise, wie aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse in die Risikobewertung einfließen und wie geltende Regeln einer wissenschaftlich fundierten Bewertung angewandt werden sollten.

Dazu gehören:

  • eine breitere Anwendung so genannter Systematic Reviews (ein etabliertes Verfahren zur Erstellung von wissenschaftlichen Literaturübersichten), um Objektivität und Transparenz bei der Bewertung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse zu sichern;
  • die ordnungsgemäße Anwendung des „weight-of-evidence“, um unterschiedliche wissenschaftliche Belege integriert zu betrachten, statt sie getrennt zu bewerten und anschließend zu verwerfen, wie es zum Beispiel im Fall der Krebsbewertung von Pestiziden immer wieder geschehen ist;
  • eine bessere Bewertung der Toxizität von Pestizidformulierungen, so, wie sie vermarktet werden, anstatt sich nur auf die Pestizidwirkstoffe zu konzentrieren, da die Formulierungen ggf. weitaus toxischer sein können;
  • die Abschaffung der gängigen Praxis seitens der Aufsichtsbehörden, in den Industriedossiers vorgenommene Sicherheitsbewertungen zu plagiieren. Die Aufsichtsbehörden müssen eigene, unabhängige Bewertungen der Daten durchführen.

Details zu Publikation

Achieving a High Level of Protection from Pesticides in Europe: Problems with the Current Risk Assessment Procedure and Solutions.

Claire ROBINSON, Christopher J. PORTIER, Aleksandra ČAVOŠKI, Robin MESNAGE, Apolline ROGER, Peter CLAUSING, Paul WHALEY, Hans MUILERMAN und Angeliki LYSSIMACHOU

DOI: 10.1017/err.2020.18

European Journal of Risk Regulation, 31 Seiten, online erschienen am 16. April 2020.


Hintergrund

Die neue Publikation baut auf der Arbeit einer interdisziplinären Gruppe von Wissenschaftlern, Juristen und politischen Akteuren auf, zu denen die Autoren dieses Papiers gehören, und die im Jahr 2018 die Koalition Citizens for Science in Pesticide Regulation gründeten. Mehr als 140 NGOs unterzeichneten das Manifest der Koalition und forderten eine Reform der Risikobewertung, um sicherzustellen, dass der Einsatz von Pestiziden keine Schäden für Mensch, Tier und Umwelt verursacht.

Das neue Papier wurde zu einer Zeit veröffentlicht, in der die EU-Kommission ihre „Farm to Fork“-Strategie (F2F) als Teil des Europäischen „Grünen Deals“ vorbereitet. F2F zielt darauf ab, „ein faires, gesundes und umweltfreundliches Lebensmittelsystem zu sichern“ und soll „Maßnahmen zur deutlichen Verringerung des Einsatzes und der Risiken chemischer Pestizide“ beinhalten.

Dr. Angeliki Lyssimachou, eine der Autorinnen des neuen Publikation und wissenschaftspolitische Referentin beim Pestizid-Aktionsnetzwerk Europa, sagte: „Eine Risikoreduzierung kann nicht stattfinden, wenn die Risikobewertung nicht ordnungsgemäß durchgeführt wird. Einige Pestizide, die das Genehmigungsverfahren durchliefen, sollten überhaupt nicht auf dem Markt sein, da sie giftig sind. Die Regulierungsbehörden müssen sicherstellen, dass während des gesamten Bewertungsverfahrens die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse und objektive Bewertungsmethoden angewandt werden“.

Neben dem F2F wird die EU-Kommission auch ihre längst überfällige REFIT-Bewertung der EU-Pestizidgesetzgebung veröffentlichen, in der beurteilt wird, „ob die Vorschriften den Bedürfnissen der Bürger, Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen auf effiziente Weise gerecht werden“, und in der Empfehlungen für künftige Maßnahmen ausgesprochen werden. Es wurden Bedenken geäußert, dass sich REFIT darauf zu konzentrieren scheint, die EU-Vorschriften für die Industrie „besser“ zu machen, und dass die Pestizidvorschriften dadurch absichtlich geschwächt werden.

Die Veröffentlichung  sowohl von F2F als auch des REFIT der Pestizid-Verordnung verzögern sich aufgrund der COVID-19-Krise, wobei der Bauernverband COPA-COGECA Lobbyarbeit dafür geleistet hat, dass die Veröffentlichung bis zum Herbst verschoben oder sogar zunächst nur eine Folgenabschätzung durchgeführt werden soll.

Doch Claire Robinson, Redakteurin bei GMWatch und Erstautorin der neuen Publikation, entgegnet: „COVID-19 hat uns gezeigt, dass die menschliche Gesundheit im Vordergrund stehen muss und dass eine nachhaltige Nahrungsmittelproduktion von entscheidender Bedeutung ist. Wir können uns keine weiteren Verzögerungen bei der Umsetzung eines gesunden, nachhaltigen und widerstandsfähigen Ernährungssystems leisten“.

Zitate der Ko-Autoren

Dr. Peter Clausing, Toxikologe beim Pestizid-Aktions-Netzwerk Deutschland: „Der ‚weight-of-evidence‘-Ansatz ist ein wichtiges Konzept, um wissenschaftliche Daten zu konsolidieren. Unsere Veröffentlichung zeigt, dass es erheblichen Spielraum für Verbesserungen in der Art und Weise gibt, wie die europäischen Behörden dieses Konzept bei der Risikobewertung von Pestiziden anwenden“.

Dr. Apolline Roger, Rechtsexpertin bei ClientEarth, Brüssel: „Die Pestizid-Verordnung hat großartige Elemente. In den meisten Fällen ist es nicht das Gesetz, das reformiert werden muss, sondern die Art und Weise, wie es umgesetzt wird. Wir gehen mit unseren Empfehlungen detailliert auf die notwendigen Reformen ein“.

Prof. Christopher Portier, Wissenschaftler beim Environmental Defense Fund, U.S.A. und ehemaliger Direktor des U.S. National Center for Environmental Health: „Wissenschaftliche Strenge und vollständige Transparenz sind entscheidend, sowohl für die Bewertung der Daten, die bei der Entscheidungsfindung im Regulierungsbereich verwendet werden, als auch für das Vertrauen, das die Öffentlichkeit diesen Bewertungen entgegenbringt. Diese Publikation empfiehlt Verbesserungen, die beides stärken werden“.

Paul Whaley, Dozent an der Universität Lancaster in Großbritannien, der sich auf neuartige Methoden zur Bewertung von Gesundheitsrisiken durch chemische Exposition spezialisiert hat: „Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit ist eine weltweit führende Agentur, wenn es darum geht, Reformen vorzuschlagen, wie wissenschaftliche Forschung bei der Risikobewertung von Pestiziden eingesetzt wird, insbesondere bei der Anwendung von Methoden des Systematic Review, um Belege für potenzielle Gesundheitsrisiken zu analysieren. Das Problem ist, dass diese Reformen zu langsam und zu ungleichmäßig umgesetzt werden, so dass zu viele Chemikalien mit Methoden bewertet werden, die veraltet und undurchsichtig sind und dadurch zu unzuverlässigen Ergebnissen führen.

Professor Aleksandra Čavoški, Universität Birmingham: „Die EFSA hat erhebliche Fortschritte bei der Verbesserung ihrer Unabhängigkeit gemacht, mit dem Ziel einen „Drehtüreffekt“ zu verhindern. Doch die Politik der EFSA genügt nicht, um Interessenskonflikte zu verhindern, die sich aus der Bereitstellung von Forschungsgeldern ergeben können“.