4. Oktober 2022 · Rubrik: Pestizide

Maßnahmen zum Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen vor Pestizidbelastungen reichen nicht aus

Hamburg, 4. Oktober 2022. Pressemitteilung. Eine neue Studie, die in der italienischen Provinz Bozen-Südtirol durchgeführt wurde, zeigt, dass trotz der von den lokalen Behörden ergriffenen Maßnahmen zur Verringerung der Pestizidbelastung immer noch synthetische Pestizide, die der menschlichen Gesundheit und der Umwelt schaden können, auf Kinderspielplätzen und Schulhöfen nachgewiesen werden.

Die Studie [1,2], eine Zusammenarbeit von Experten der Health and Environment Alliance (HEAL), des Pesticide Action Network (PAN) Europe, PAN Germany und der Universität für Bodenkultur in Wien (BOKU), wurde in einer der wichtigsten europäischen Anbauregionen für Äpfel und Wein durchgeführt. Die Forscher untersuchten die offiziellen Daten von 306 Grasproben, die zwischen 2014 und 2020 auf 88 nicht landwirtschaftlich genutzten öffentlichen Flächen wie Kinderspielplätzen und Schulhöfen gesammelt wurden.

Die Ergebnisse zeigen, dass die bestehenden lokalen Maßnahmen zur Verringerung der Pestizidabdrift in der Region nicht wirksam genug sind, um die Pestizidexposition in öffentlichen Räumen zu verhindern. Zu diesen Maßnahmen gehören Warnschilder und Einschränkungen der Pestizidausbringung in Bezug auf Tageszeit und Entfernung [3].

Die wichtigsten Ergebnisse:

  • Trotz eines leichten Rückgangs der gemessenen Pestizidrückstände zwischen 2014 und 2020 konnten an 73 % der beprobten Standorte immer noch Rückstände von mindestens einem Pestizid nachgewiesen werden, und im Jahr 2020 wurden an 27 % der Standorte Mehrfachrückstände gefunden.
  • Fluazinam, ein Fungizid, das im Verdacht vorgeburtliche Schäden zu verursachen, und das in Tierversuchen mit Krebs in Verbindung gebracht wurde, wurde an 74 % der kontaminierten Standorte nachgewiesen. Andere bedenkliche Pestizide wurden ebenfalls häufig nachgewiesen, so das Fungizid Captan (60 %) und das Insektizid Phosmet (49 %).
  • Der prozentuale Anteil der Rückstände von Pestiziden, die als schädigend für die menschliche Fortpflanzung klassifiziert sind, ist deutlich gestiegen, und zwar von 21 % im Jahr 2014 auf 88 % im Jahr 2020. Der Prozentsatz der Rückstände von Pestiziden mit spezifischer Organtoxizität, stieg ebenfalls von 0 % im Jahr 2014 auf 21 % im Jahr 2020 [4].
  • Der Prozentsatz der Stoffe mit Potenzial zur Hormonschädigung (89 %) oder zur Verursachung von Krebs (45 %), blieb während des Untersuchungszeitraums unverändert.
  • Würden diese Konzentrationen von Pestizidrückständen in lokal angebauten Lebensmitteln gefunden, so lägen sie um ein Vielfaches über den Werten, die in der EU als sicher für den Verzehr gelten.
  • Der Prozentsatz der nachgewiesenen Pestizidrückstände mit akuter Toxizität für Honigbienen blieb während des gesamten Untersuchungszeitraums hoch.

Diese Ergebnisse stützen sich auf eine frühere Studie, in der Pestizidrückstände in Entfernungen zwischen 5 und 600 Metern von den landwirtschaftlichen Standorten, an denen sie ursprünglich eingesetzt wurden, nachgewiesen wurden [2].

„Eine konsequente Überwachung ist unabdingbar, um die Effizienz von Minderungs-maßnahmen und die Verringerung potenzieller Risiken für Mensch und Umwelt durch gefährliche Pestizide zu gewährleisten“, betont Dr. Caroline Linhart, Hauptautorin der Studie.

In der Europäischen Union werden bei der Risikobewertung von Pestiziden Vorhersagemodelle verwendet, um deren Verteilung in der Umwelt abzuschätzen. Diese Modelle berücksichtigen jedoch keine Daten aus der Praxis.

„Unsere Daten zeigen, dass die offiziellen Risikobewertungen die tatsächliche Exposition von Nicht-Zielorganismen, einschließlich des Menschen, gegenüber Pestiziden zu unterschätzen scheinen. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass das, was wir in dieser Studie gezeigt haben, höchstwahrscheinlich die Situation in anderen Regionen mit intensiver Apfel- und Weinproduktion in Europa und weltweit widerspiegelt“, erklärt Professor Johann Zaller, Mitautor von der Universität für Bodenkultur in Wien (BOKU).

„Die Daten deuten darauf hin, dass es in Regionen mit geringem Abstand zwischen Hausgärten und intensiv behandelten Flächen wie Obstplantagen immer wieder zur Kontamination der Gärten und des dort angebauten Obstes und Gemüses kommt. Das EU-Pestizidrecht von 2009 schreibt vor, alle als besonders gefährlich eingestuften Pestizide („Substitutionskandidaten“) durch weniger gefährliche, am besten durch nicht-chemische Verfahren zu ersetzen. Die Befunde zeigen die Dringlichkeit, diese Regelung endlich umzusetzen“, sagt Mitautor Dr. Peter Clausing, Toxikologe und wissenschaftlicher Berater des Pestizid Aktions-Netzwerks (PAN Germany).

Die Ergebnisse der Studie kommen kurz nachdem die Europäische Kommission einen Entwurf für eine neue Verordnung über den nachhaltigen Einsatz von Pestiziden (SUR) veröffentlicht hat. Darin werden rechtsverbindliche Reduktionsziele festgelegt, um den Einsatz von Pestiziden in allen EU-Mitgliedsstaaten bis 2030 zu halbieren, insbesondere von solchen, die bekanntermaßen gesundheitsgefährdend sind. Der Vorschlag zielt auch darauf ab, den Einsatz von Pestiziden in allen „sensiblen“ Gebieten, die von der Allgemeinheit genutzt werden oder von ökologischer Bedeutung sind, sowie in einem Umkreis von drei Metern zu verbieten.

Interessanterweise sind mehrere dieser vorgeschlagenen EU-weiten Maßnahmen weniger streng als die der Landesregierung von Bozen-Südtirol, wo Pestizide mit gefährlichen Eigenschaften nicht in Bereichen eingesetzt werden dürfen, die von der Allgemeinheit und von Kindern genutzt werden, und auch nicht in einem Umkreis von 30 Metern von ihnen.

„Unsere Studie zeigt, dass regionale Maßnahmen zur Verringerung der Pestizidbelastung, selbst wenn sie strenger sind als die von der EU-Kommission vorgeschlagenen, einfach nicht ausreichen, um die Exposition von Kindern und der Allgemeinheit gegenüber Substanzen zu verhindern, die das Potenzial haben, Krebs zu verursachen oder die Fortpflanzung zu schädigen. Eine drastischere Reduzierung aller Pestizide und eine deutliche Ausweitung der vorgeschlagenen Pufferzonen auf mindestens 50 Meter sind dringend erforderlich, um die Gesundheit zu schützen“, erklärt Dr. Angeliki Lyssimachou, Senior Science Policy Officer bei HEAL und Mitautorin der Studie.

Kontakt zu den Autor*innen:

Quellen:

  1. Pesticide drift mitigation measures appear to reduce contamination of non-agricultural areas, but hazards to humans and the environment remain’, Science of the Total Environment volume 854 (2022) https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0048969722059137
  2. Die neue Studie baut auf früheren Untersuchungen auf, die sich mit Pestizidrückständen in Abhängigkeit vom Anwendungsort in Südtirol befasst haben: ‘Pesticide contamination and associated risk factors at public playgrounds near intensively managed apple and wine orchards’, Environmental Science Europe Volume 31 (2019) https://enveurope.springeropen.com/articles/10.1186/s12302-019-0206-0
  3. Im Fall von Bozen-Südtirol hat die Regierung 2014 damit begonnen, zusätzliche Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung vor der Exposition gegenüber Pestiziden einzuführen. Dazu gehört eine 30-Meter-Pufferzone für Pestizide der Kategorie „hochgefährlich“ für Gesundheit und Umwelt, wenn sie in der Nähe von öffentlichen Flächen, die von Kindern und der Allgemeinheit besucht werden, zum Einsatz kommen. Nur bei zusätzlichen Schutzmaßnahmen (z. B. Barrieren in Form von Bäumen oder Hecken), kann der Abstand auf fünf oder zehn Meter Pufferzonen reduziert werden.
  4. Die Tabellen der Publikation stehen hier zur Verfügung: https://ars.els-cdn.com/content/image/1-s2.0-S0048969722059137-ga1_lrg.jpg

 

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