Ackern ohne Glyphosat – Neuer Bericht zeigt, dass es für alle Anwendungen Alternativen gibt

In diesem Jahr wird die EU über die Wiederzulassung von Glyphosat entscheiden. Das Herbizid ist ein weltweiter Verkaufsschlager und gleichzeitig hochumstritten. Im Zentrum der Diskussion stehen Risiken für die menschliche Gesundheit, für eine Vielzahl von Lebewesen und die negativen Auswirkungen von Glyphosat auf die biologische Vielfalt. Europäische Bürger*innen hatten bereits 2017 per Bürgerinitiative ein EU-weites Verbot von Glyphosat gefordert. Nun gibt es ein „Kochbuch“ für die Arbeit ohne Glyphosat.

Die Bekämpfung von ungewolltem Bewuchs ist eine große Herausforderung in der Landwirtschaft, insbesondere im Acker- und Gemüseanbau. Der neue Bericht von PAN Europe in Zusammenarbeit mit der europäischen Fraktion der Grünen/EFA zeigt, dass es für alle bekannten Hauptanwendungen von Herbiziden auf Glyphosatbasis wesentlich sicherere nicht-chemische Alternativen gibt, sowohl Low- als auch Hightech-Verfahren. Der Bericht schlägt zudem Maßnahmen vor, wie der Übergang zu einer glyphosatfreien Landwirtschaft wirtschaftlich tragfähig machbar ist.

Gergely Simon, Chemikalienbeauftragter bei PAN Europe, betont: „Die Wissenschaft zeigt eindeutig: Glyphosat schädigt die Ökosysteme, einschließlich Bestäuber und nützliche Insekten, Regenwürmer und Bodenlebewesen, und verursacht direkte Schäden in der Landwirtschaft. Unser Bericht über verfügbare Alternativen zu Glyphosat liefert eine klare Botschaft: Einem Verbot dieser schädlichen chemischen Substanz steht nichts im Wege.“

Report WEED MANAGEMENT: ALTERNATIVES TO THE USE OF GLYPHOSATE

Beiträge von PAN Germany zu Glyphosat




Frauen, Landwirtschaft und Pestizide

PAN Germany Pestizid-Brief 4 – 2023

Frauen machen im Durchschnitt 43 Prozent der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte weltweit aus. In Deutschland liegt der Ausbildungsanteil von Frauen in der Landwirtshaft bei lediglich 20 Prozent und ihr Beschäftigungsanteil in der Landwirtschaft bei 38 Prozent. In anderen Regionen der Welt sieht dies anders aus. So arbeiten fast 70 Prozent der erwerbstätigen Frauen in Südasien und mehr als 60 Prozent der erwerbstätigen Frauen in Afrika südlich der Sahara in der Landwirtschaft.

Ob zur Selbstversorgung in der Subsistenzlandwirtschaft, in informellen oder formellen Arbeitsverhältnissen, Frauen sind routinemäßig giftigen Pestiziden ausgesetzt. Doch so schwierig es ist, in vielen Regionen den tatsächlichen Beitrag der Frauen in der Landwirtschaft zu messen, so schwierig ist es auch, die tatsächlichen Auswirkungen von Pestiziden auf Frauen zu erfassen.

In bestimmten Ländern und beim Anbau bestimmter Kulturen wird ein erheblicher Teil der Pestizide von Frauen ausgebracht, zum Beispiel auf Kaffee- und Obstfarmen in Südafrika, auf Bananenplantagen in Costa Rica oder in Malaysia, wo es allein im Plantagensektor schätzungsweise 300.000 Sprüherinnen gibt. Plantagenarbeiterinnen in Indonesien, Malaysia und auf den Philippinen sind durch das Mischen, Verladen und Versprühen von Pestiziden häufig hochgefährlichen Pestiziden ausgesetzt. Die Arbeitgeber stellen oft keine persönliche Schutzausrüstung (PSA) zur Verfügung, so dass die Frauen improvisieren, indem sie sich Schals um das Gesicht wickeln oder BH-Körbchen als Masken oder Atemschutzmasken verwenden. Wenn Pestizide verschüttet und versehentlich mit ihrem Körper in Kontakt kommen, ignorieren die Frauen dies oder waschen sich im Fluss und arbeiten danach in nasser Kleidung weiter.

Frauen können auch unwissentlich mit Pestiziden in Berührung kommen, wenn sie z. B. Unkraut jäten oder ernten, wofür keine PSA erforderlich scheint. Frauen in Blumenfarmen in Kenia, die mehr mit dem Jäten, Schneiden und Verpacken von Blumen beschäftigt sind als ihre männlichen Kollegen, zeigen häufiger Vergiftungssymptome als die Männer, die das eigentliche Sprühen übernehmen.

Jüngste Zahlen zu Pestizid-Vergiftungen gehen davon aus, dass es jährlich zu 385 Millionen unbeabsichtigter, nicht-tödlicher Pestizidvergiftungen kommt. Dies bedeutet, dass etwa 44 Prozent der in der Landwirtschaft tätigen Weltbevölkerung – 860 Millionen Landwirt*innen und Landarbeiter*innen – jedes Jahr mindestens eine Vergiftung erleiden. Es liegen jedoch keine ausreichenden Daten vor, um die Häufigkeit von Vergiftungen bei Frauen abzuschätzen, da es noch immer an nach Geschlechtern aufgeschlüsselten Daten und einer geschlechtsspezifischen Perspektive in der arbeitsmedizinischen Forschung mangelt. Dieser Mangel wurde auch von der Weltgesundheitsorganisation bestätigt.

Aufgrund traditioneller Geschlechterrollen sind Frauen durch Hausarbeiten wie dem Waschen von Spritzgeräten oder pestizidverunreinigter Kleidung der Männer, mit der Lagerung von Pestiziden oder der Entsorgung von Pestizidbehältern stark mit Pestiziden belastet. In Vietnam ergab eine Studie, dass mehr Mädchen als Jungen angaben, durch das Waschen von Sprühbehältern Pestiziden ausgesetzt zu sein. Studien in Bolivien, Südafrika und Tansania zeigen zudem, dass Frauen aufgrund ihres geringeren Bildungsniveaus und ihres eingeschränkten Zugangs zu Schulungen stärker von Pestiziden betroffen sind.

Auch die Auswirkungen von Pestiziden auf Frauen und Mädchen unterscheiden sich von den Auswirkungen auf Männer und Jungen. Juckreiz im Vaginalbereich, abnormale Menstruationsblutungen und eine hohe Zahl von Tot- und Fehlgeburten gehören zu den Auswirkungen auf die reproduktive Gesundheit, von denen Sprüherinnen in Indonesien und auf den Philippinen berichten. Viele Frauen arbeiten weiter in Arbeitsumgebungen, in denen sie Pestiziden ausgesetzt sind, wenn sie schwanger sind oder stillen. In Südindien ergab eine Studie, dass 68 Prozent der Arbeiterinnen auf Teeplantagen bis einschließlich zum sechsten Monate der Schwangerschaft arbeiten.

Frauen haben im Allgemeinen einen höheren Anteil an Körperfett und speichern daher eher Schadstoffe, die sich im Fettgewebe und in der Muttermilch anreichern können. Zudem haben Frauen einen höheren Anteil an hormonell empfindlichem Gewebe, was sie anfälliger insbesondere für hormonaktive oder das endokrine System schädigende Pestizide macht. Es besteht ein nachgewiesener Zusammenhang zwischen Brustkrebs und bestimmten Pestiziden, die als Brustkrebserreger und Tumorpromotoren wirken. Rückstände von chlororganischen Pestiziden, die sich nur langsam abbauen und in der Nahrungskette bioakkumulieren, darunter auch in der Landwirtschaft verbotene Pestizide wie DDT, wurden bei Brustkrebspatientinnen nachgewiesen. Pestizide werden auch mit Endometriose in Verbindung gebracht, einer schmerzhaften Erkrankung, die zu Unfruchtbarkeit führen und ein erhebliches Risiko für die reproduktive Gesundheit von Frauen und ihr ungeborenes Kind darstellen kann. Pestizide werden von der Mutter über den Mutterleib und das Stillen an das Kind weitergegeben und stehen in Verbindung mit Todesfällen bei Neugeborenen, Geburtsfehlern und geistigen Entwicklungsstörungen oder tiefgreifenden Entwicklungsproblemen bei Kindern. Studien auf dem Gebiet der Epigenetik zeigen zudem, dass die Exposition gegenüber Pestiziden die Genaktivität und die vererbten physiologischen Eigenschaften beeinflussen kann.

Nach Erkenntnissen der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) investieren Frauen bis zu 90 Prozent ihres Einkommens wieder in ihre Haushalte. Das erwirtschaftete Geld wird von ihnen für Ernährung, Gesundheit, Schule und einkommensschaffende Aktivitäten ausgegeben. Studien der FAO belegen zudem: Wenn Bäuerinnen den gleichen Zugang zu Ressourcen hätten wie Männer, könnten die Ernteerträge um fast ein Drittel gesteigert werden. Frauen sind nicht nur Motor für Produktionssteigerungen, sondern auch für Veränderungen in der Landwirtschaft. In der Landwirtschaft tätige Frauen im globalen Süden spielen anerkanntermaßen eine Schlüsselrolle beim Übergang hin zu agrarökologischen Anbausystemen.

Dieser Artikel ist in weiten Teilen eine Übersetzung des Artikels „At the forefront of exposure“ von Ilang-Ilang Quiano, PAN Asia Pacific, erschienen im englischen Pesticide Atlas 2022.
Quellen sind dem Atlas zu entnehmen. Für den PAN Germany Pestizid Brief zum Weltfrauentag 2023 wurde der Artikel in Absprache mit der Autorin geringfügig bearbeitet und ergänzt.




EP-Berichterstatterin Sarah Wiener stellt Änderungsvorschläge zum SUR-Entwurf vor

Heute stellte die EU-Abgeordnete und Berichterstatterin Sarah Wiener ihren Berichtsentwurf zur Parlamentsposition zur Verordnung über die nachhaltige Verwendung von Pflanzenschutzmitteln (SUR) dem Umweltausschuss (ENVI) vor.

Im Vorfeld der Ausschusssitzung hatten 69 Organisationen der Zivilgesellschaft – darunter PAN Germany – in einem Offenen Brief an die Europaabgeordneten appelliert, die Änderungsvorschläge von Sarah Wiener für eine starke SUR zu unterstützen, um die biologische Vielfalt und die langfristige Ernährungssicherheit zu schützen und die negativen gesundheitlichen Auswirkungen beim Einsatz von chemisch-synthetischen Pestiziden anzugehen.

Ein wichtiger Eckpunkt des Berichtsentwurfs ist eine Konkretisierung des Begriffs des Integrierten Pflanzenschutz Managements (IPM) im Verordnungstext. Kern des Vorschlags ist eine Hierarchisierung der IPM-Verfahren nach agrarökologischen Prinzipien, so dass der Einsatz chemisch-synthetischer Pestizide stets nur die letzte Wahl in der zukünftigen landwirtschaftlichen Produktion darstellt. Zwar ist IPM im konventionellen Anbau lange rechtsverbindlich, aber die reale Umsetzung ist unzureichend. Die neue SUR muss dafür Sorge tragen, dass hier nachgebessert wird, denn bereits durch die Umsetzung von IPM wären erhebliche Einsparpotentiale beim Pestizideinsatz möglich. Gefördert werden muss, so die Berichterstatterin, auch die Schulung der Landwirt*innen sowie die unabhängige Beratung zur Umsetzung des IPM.

Der Berichtsentwurf von Sarah Wiener schlägt zudem einen Kompromissvorschlag für „sensible Gebiete“ vor. Das Totalverbot in allen Schutzgebieten im SUR-Entwurf der Kommission war im Vorfeld sehr stark kritisiert worden. Nun sollen bei Schutzgebieten, die weder dem Schutz der Artenvielfalt dienen, noch den Eintrag von Chemikalien in Gewässer verhindern sollen, der Einsatz von bestimmten Pestiziden weiter erlaubt werden.

Aus PAN-Sicht zu begrüßen, sind noch weitere Vorschläge im Berichtsentwurf, u.a. ein engagierteres Reduktionsziel bei besonders gefährlichen Pestiziden – den Substitutionskandidaten. PAN begrüßt auch, die Festlegung von Schutzzonen rund um Schutzgebiete und Bereiche, die dem Schutz sensibler Gruppen dienen (wie Krankenhäusern, Kitas etc.), auszuweiten sowie die Finanzierung von Maßnahmen durch eine risikobasierte Pestizidabgabe zu unterstützen.

Obwohl die Notwendigkeit zur Pestizidreduktion in der Anhörung des Umweltausschusses nicht zur Diskussion stand, stieß der Berichtsentwurf – wie zu erwarten – nicht nur auf Zustimmung. Gerade auf Seiten der konservativen Parteien wird das „wann“ und das „wie“ kritisiert. Als Argument wird oft die Ernährungssicherheit angeführt, die momentan durch den Krieg Russlands in der Ukraine gefährdet sei.

Sarah Wiener und andere Befürworter kontern, dass nur eine nachhaltige Landwirtschaft unsere Ernährung langfristig sichern kann, da Ressourcen- und Biodiversitätsschutz direkt damit verknüpft seien, dass Landwirt*innen jetzt Planungssicherheit bräuchten, und dass das Ziel der Pestizidreduktion mittlerweile nicht nur im Europäischen Green Deal, sondern seit dem UN-Biodiversitätsgipfel in Montreal im Dezember 2022 auch als globales Ziel bestätigt wurde.

Neben der inhaltlichen Kontroverse stand auch der Zeitplan zur Diskussion. Dieser wurde bereits deutlich nach hinten verschoben. Änderungsvorschläge zum Berichtsentwurf können bis Ende März eingereicht werden, die Abstimmung im Umweltausschuss soll im Juni und die Abstimmung im EP Plenum im September 2023 stattfinden. Der Landwirtschaftsausschuss möchte demgegenüber mit seiner Stellungnahme noch warten, da die zusätzliche Folgenabschätzung noch aussteht. Dies könnte die Abstimmung des EU Parlaments zur SUR verzögern. Ein Offener Brief vom 1. März der Europäischen Bürgerinitiative (EBI) „Bienen und Bauernretten“ appelliert deshalb an den Vorsitzenden des Landwirtschaftsausschusses Norbert Lins, diese Blockadehaltung endlich aufzugeben und einen Zeitplan für den Entscheidungsprozess im Landwirtschaftsausschuss vorzulegen, der eine konstruktive Zusammenarbeit mit dem Umweltausschuss und eine Abstimmung vor der Sommerpause ermöglicht.

Zum Abschluss der Anhörung plädierte Berichterstatterin Sarah Wiener eindringlich an ihre Kolleginnen und Kollegen, konstruktiv und gemeinsam mitzuhelfen, die SUR auf den Weg zu bringen.

Hier die Videoaufzeichnung der Debatte (Sprachauswahl rechts unten beim Notensymbol).




„Agrarökologie: ein Zukunftsmodell?“ – Der neue Podcast von PAN Germany

Die Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ („Farm to Fork“, F2F) ist eine der wichtigsten Maßnahmen im Rahmen des europäischen Grünen Deals. Sie soll dazu beitragen, bis 2050 Klimaneutralität zu erreichen und einen Wandel bei der Erzeugung und beim Konsum von Lebensmitteln in Europa herbeizuführen. Dafür soll unter anderem der Einsatz von chemisch-synthetischen Pestiziden bis 2030 halbiert und der Anteil der für die ökologische/biologische Landwirtschaft genutzten Fläche um 25% erhöht werden. Der derzeit verhandelte Kommissionsentwurf für eine neue Verordnung zur nachhaltigen Anwendung von Pflanzenschutzmitteln („Sustainable Use Regulation“, SUR) ist ein wichtiges legislatives Instrument, um diese Ziele in der EU umzusetzen.

Eine wichtige Maßnahme zur Erreichung der Ziele ist nach der F2F-Strategie auch die Förderung von Agrarökologie, beispielsweise über Subventionen der Gemeinsamen Agrarpolitik, über Innovationsförderung und Forschungsinitiativen. Was aber ist eigentlich Agrarökologie? Der Begriff und das dahinterstehende Konzept sind in Deutschland noch recht neu und wenig bekannt.

PAN Germany hat deshalb das Thema aus unterschiedlichen Blickwinkeln in der neuen vierteiligen Podcast-Serie „Agrarökologie: ein Zukunftsmodell?“ beleuchtet. In Gesprächen mit vier Expert*innen sprechen wir über die Gefahren des Pestizideinsatzes in der Landwirtschaft und über Ansätze und Beispiele zukunftsfähiger Landbewirtschaftung, Nahrungsmittelproduktion und gesunder Ernährung, die auf den Einsatz von chemisch-synthetischen Pestiziden verzichten und ein Bereich der Agrarökologie abbilden können.

Die vier Folgen der Podcast-Serie „Agrarökologie: ein Zukunftsmodell?“ stehen aktuell auf den Podcast-Plattformen Spotify, Deezer und Amazon Music zur Verfügung und werden auch in der neuen Podcast-Rubrik auf der PAN Germany Website zu hören sein:

  1. Stiller Frühling und die Pestizid-Tretmühle: Mit dem unabhängigen Pestizidexperten und Autor des foodwatch Reports „locked-in pesticides“, Lars Neumeister, sprechen wir in der ersten Folge darüber, warum trotz vieler Verbote einzelner Wirkstoffe heute immer noch regelmäßig und intensiv Pestizide in der Landwirtschaft – in Deutschland und weltweit – eingesetzt werden.
  2. Agrarökologie für ein zukunftsfähiges Landwirtschaftssystem: Mireille Remesch vom Forum für internationale Agrarpolitik e.V. erklärt den Begriff der Agrarökologie und zeigt an Beispielen auf, welche Potentiale in der Agrarökologie stecken, um verschiedene Ziele zusammen zu bringen: sowohl gesunde Nahrungsmittel zu produzieren, als auch die Artenvielfalt und Umweltressourcen zu schützen, die Gemeinschaft zu stärken und faire Lebensgrundlagen für Erzeuger*innen zu schaffen.
  3. Agrarökologie für vielfältigere Anbausysteme: Die dritte Folge beschäftigt sich mit agrarökologischen Anbausystemen, die aufgrund ihrer Diversität und Resilienz für gesunde Böden, sauberes Wasser und den Schutz des Klimas stehen. Wie Mischkulturen Feld und Wald nachhaltig vereinen können und welchen Mehrwert solche Agroforstsysteme für die Landwirt*innen und unser Ernährungssystem haben können, besprechen wir mit Leon Bessert vom Deutschen Fachverband für Agroforstwirtschaft (DeFAF) e.V.
  4. Agrarökologie für mehr Solidarität im Ernährungssystem: In der letzten Folge geht es um agrarökologische Initiativen wie Ernährungsräte, solidarische Landwirtschaften, Gemeinschaftsgärten, Lebensmittelkooperativen und Erzeuger*innengemeinschaften, die für mehr Solidarität in Landwirtschafts- und Ernährungssystemen einstehen. Wie Agrarökologie mit einer nachhaltigen Produktion mehr Fairness für Produzent*innen und Konsument*innen schaffen kann, darüber sprechen wir mit Judith Mayer vom Ernährungsrat für Köln.



Aufzeichnung zum Online-Talk: Hormonaktive Chemikalien stoppen!

Am 25. Januar 2023 luden Women Engage for a Common Future (WECF) in Kooperation mit HEJSupport und PAN Germany zu dem Online-Talk: Hormonaktive Chemikalien stoppen!
Die Teilnehmer*innen diskutierten mit der Parlamentarischen Staatsekretärin des Bundeministeriums für Umwelt, Naturschutz, Nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz Dr. Bettina Hoffmann, gemeinsam mit Expert*innen aus den Bereichen Toxikologie, Endokrinologie, Politik und der Zivilgesellschaft die Frage: Wie können wir uns und unsere Umwelt besser vor hormonaktiven Chemikalien schützen?

Die Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag die Erarbeitung eines Plans zum Schutz vor hormonaktiven Chemikalien, so genannten Endocrine Disrupting Chemicals (EDCs), festgeschrieben. Dies ist ein wichtiger und dringender Schritt, denn EDCs sind Chemikalien, die das Hormonsystem von Menschen und Tieren stören und dadurch irreversible gesundheitliche Schäden auslösen können. Mehr als 50 Teilnehmende nahmen interessiert die neuesten Zahlen und Forschungsergebnisse sowie die Eckpunkte des geplanten EDC-Aktionsprogramms auf, die in dem Online-Talk präsentiert wurden.

Wer den Online-Talk nachhören möchte oder diesen verpasst hat, dem steht hier die Aufzeichnung zur Verfügung. Unter diesem Link finden sich auch die Präsentationen der Veranstaltung zum Herunterladen.
Weitere Informationen finden sich auf unserer PAN-Website unter dem Schlagwort „EDCs“ wie u.a. die von HEJ Support, PAN Germany und WECF ausgearbeiteten „Forderungen für einen EDC Aktionsplan“.




Legal opinion on the implementation of an export ban of certain hazardous pesticides from Germany

The German government has announced it will implement an export ban on certain hazardous pesticides. A draft of the implementation policy will be presented during the spring of 2023. The goal of the export ban is to eliminate double standards in the pesticide trade. Double standards arise when active ingredients and pesticide products that are not approved or authorised in the European Union (EU) because of their environmental and health hazards or risks are nevertheless exported from Germany to countries outside the EU.

A legal opinion written by Mirka Fries (LL.M.) and Ida Westphal (Ass. Iur.) and commissioned by the European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), the Heinrich Böll Stiftung, INKOTA netzwerk, the Pesticide Action Network Germany (PAN Germany), and the Rosa Luxemburg Stiftung examines the potential scope of such an export ban and if it could be compatible with the law of the European Union as well as the General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) of the World Trade organization (WTO).

A German export ban – but also national export bans by other EU member states – will be particularly effective in countering double standards in the pesticide trade as long as: 1) both active ingredients and pesticide products are covered; and 2) export rights are only granted for substances that were approved or authorised as a result of a thorough assessment of their hazard levels and risks to humans and the environment under current EU regulatory framework. In this way, the same standards of health and environmental protection applicable for marketing within the EU would apply to the export of such pesticides.

The legal opinion (english version) at hand is a shortened version of the original legal opinion written in German.

More information:

 




Weltweite Pestizidvergiftungen im Fokus – TEIL 2

PAN Germany Pestizid-Brief 3 – 2023

Die Erhebung und Veröffentlichung der weltweiten unbeabsichtigten Pestizidvergiftungen durch Boedeker W, Watts M, Clausing P, Marquez E im Jahr 2020 hat weltweit große Aufmerksamkeit auf ein lange von der internationalen Gemeinschaft vernachlässigtes Thema gelenkt. Nach Auswertung von Vergiftungsdaten kamen die Forscher*innen zu dem Schluss, dass es jedes Jahr global rund 385 Millionen Fälle akuter Pestizid-Vergiftungen gibt. Neben dem Interesse an der Problematik an sich, hat die Studie auch Interesse an dem Zustandekommen der Zahlen geweckt. Der PAN Germany Pestizid-Brief erläutert daher in zwei Teilen das wissenschaftliche Vorgehen und das Zustandekommen der Studienergebnisse.

Teil 2 – Vergiftungsdaten – Erfassung und Qualität

1  Hintergrund

Die Vergiftung von Menschen durch Pestizide wird seit langem als ernstes Problem gesehen. Bereits 1990 schätzte eine Arbeitsgruppe der Weltgesundheitsorganisation (WHO), dass jährlich etwa eine Million unbeabsichtigte Pestizidvergiftungen auftreten, die zu etwa 20.000 Todesfällen führen. Noch dreißig Jahre später gab es keine Aktualisierung dieser Zahlen, obwohl der Pestizideinsatz weltweit gestiegen ist. Veranlasst durch das international Pestizid-Aktions-Netzwerk (PAN) wurde im Jahr 2020 eine Studie veröffentlicht, deren Ziel es war, die Anzahl akuten Pestizidvergiftungen neu zu bestimmen. Nach der Studie ist von jährlich weltweit etwa 385 Millionen Fällen von akuten, unabsichtlichen Pestizidvergiftungen auszugehen, darunter etwa 11.000 Todesfälle. Bei einer weltweiten landwirtschaftlichen Bevölkerung von etwa 860 Millionen bedeutet dies, dass etwa 44 % der Landwirte jedes Jahr durch Pestizide vergiftet werden.

Die Ergebnisse liegen deutlich über den früheren Schätzungen. Ursache hierfür dürfte sein, dass die Schätzungen der aktuellen Studie auf eine bessere Datenlage in vielen Ländern und der Berücksichtigung mehrerer Datenquellen basieren. Zudem hat sich der Pestizideinsatz weltweit inzwischen nahezu verdoppelt, sodass heute mehr Menschen Pestiziden ausgesetzt sind und sie durch häufigere Anwendung stärker exponiert sind.

Das wissenschaftlich fundierte Verfahren zur Ermittlung der Anzahl von Pestizidvergiftungen stellt hohe Anforderungen an die Datenbasis und Datenqualität. Im Folgenden wird ausgeführt, welche Datenquellen hierfür verfügbar sind und welche Herausforderungen sich für die Schätzung im Hinblick auf die Identifikation, Erhebung und Dokumentation von Pestizidvergiftungen stellen.

2  Herausforderung: Identifikation von akuten Pestizidvergiftungen

Pestizidvergiftungen gehen oft mit unspezifischen Symptomen wie Kopfschmerzen oder Übelkeit einher. Für die Identifikation von Pestizidvergiftungen ist es daher erforderlich, das Auftreten der Symptome in einen Zusammenhang mit der Exposition gegenüber Pestiziden zu stellen. Bei akuten Pestizidvergiftungen ist eine unmittelbare zeitliche Abfolge ausschlaggebend und die Latenzzeit von der Exposition bis zum Auftreten der Symptome ist entscheidend für die Identifikation einer Vergiftung. Würde eine zu kurze Zeitspanne gewählt, so könnten Symptome mit längerer Latenzzeit ausgeschlossen werden und eine Pestizidvergiftung unerkannt bleiben. Eine zu lang gewählte Zeitspanne dagegen könnte Symptome, die auf eine andere Ursache zurückzuführen sind, fälschlicherweise als Folge einer Pestizidexposition erfassen. Entsprechend besteht kein allgemeines Einvernehmen darüber, was eine akute Pestizidvergiftung ist. Häufig wird für die Identifikation von Pestizidvergiftungen auf ein Klassifizierungsinstrument des von der WHO eingerichteten Intergovernmental Forum on Chemical Safety (IFCS) zurückgegriffen . Eine akute Pestizidvergiftung ist nach dieser IFCS-Definition jede Erkrankung oder gesundheitliche Auswirkung, die auf eine vermutete oder bestätigte Exposition gegenüber einem Pestizid innerhalb von 48 Stunden zurückzuführen ist. Die IFCS-Definition stellt zudem beispielhaft für einige Pestizidwirkstoffklassen Symptome und Befunde zusammen, die mit einer Vergiftung einhergehen können. Für die einzelnen Organsysteme (z.B. Nervensystem) werden die Symptome nach hohem, moderaten und niedrigem Schweregrad unterschieden. Schließlich ermöglicht das IFCS-Klassifizierungsinstrument eine Einstufung der Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer Pestizidvergiftung, indem Kriterien für Exposition, Symptome/medizinische Befunde und deren zeitliche Abfolge zusammengestellt werden. Je nach Anzahl erfüllter Kriterien kann dann im Einzelfall von einer wahrscheinlichen, möglichen oder unwahrscheinlichen Pestizidvergiftung ausgegangen werden.

3  Herausforderung: Erhebung von akuten Pestizidvergiftungen

Schätzungen der Anzahl von Pestizidvergiftungen basieren zumeist auf Befragungen von Anwender*innen oder auf sogenannten Registerdaten. Während Befragungen in ausgewählten Bevölkerungsgruppen zu ausgewählten Zeitpunkten mit Hilfe vorab konzipierter Fragebögen vorgenommen werden, handelt es sich bei Registern um bestehende Datenbanken (z. B. Sterbefälle oder Krankenhausentlassungen), die oft für große Populationen über einen längeren Zeitraum angelegt sind.

3.1 Erhebungen durch Befragungen

Eine Standardmethode zur Erfassung von Pestizidvergiftungen ist die Befragung von ausgewählten Teilnehmer*innen. Die Zielsetzungen der Studien können sehr verschieden sein und entsprechend werden unterschiedliche Studiendesigns gewählt. Besteht das Interesse etwa lediglich darin, das Ausmaß und die Umstände von Vergiftungen in einer bestimmten Gruppe zu erfassen, so kann die Studienplanung geringere Anforderungen vorsehen als wenn auf Grundlage der Ergebnisse eine allgemeine Aussage oder gar eine Hochrechnung für anderen Gruppen erfolgen soll (siehe Beispiele für Studiendesign im Textkasten). Im letzteren Fall wäre eine repräsentative, ausreichend große und möglichst zufällig ausgewählte Stichprobe erforderlich. Tatsächlich zeigt die aktuelle Studie, dass die Mehrzahl der einbezogenen Studien mit Zufallsstichproben arbeitete, um eine gewisse Repräsentativität für die Studienpopulation zu erreichen. Die Studien richten sich zumeist mit einem Fragebogen direkt an die Teilnehmer*innen und bitten diese darum, aus vorab erstellten Symptomlisten diejenigen auszuwählen, die sie in einem bestimmten Zeitraum nach dem Anwenden von Pestiziden bei sich beobachtet haben. Die Symptomlisten und Fragestellungen beziehen sich häufig auf die IFCS-Definition von akuten Pestizidvergiftungen. Allerdings verwenden nicht alle Studien die gleichen Latenzzeiten, erfassen also z. B. nur Symptome unmittelbar nach dem Sprühen, innerhalb von 24 Stunden oder von bis zu einem Monat. Wenige Studien erfassen zudem so genannte Biomarker, z.B. das Enzym Cholinesterase, das von Organophoshat- und Carbamat-Pestiziden gehemmt wird, so dass eine Vergiftung zusätzlich zur Befragung anhand der Blutwerte der Betroffenen erkannt werden kann: Gelegentlich wird auch versucht, die Pestizide direkt z.B. im Blut der Befragten nachzuweisen. Solche Studienansätze sind indes wenig verbreitet, da hierdurch nur ein Teil der Pestizide erfasst werden kann und die Studien aufwändig und teuer werden.

Die Qualität, mit der Erhebungen geplant und durchführt werden, kann die Ergebnisse beeinflussen. So zeigte die Studie, dass in Erhebungen mit einer repräsentativen Stichprobe der Anteil der Vergiftungen geringer war als bei einfachen Stichproben. Wenn die Identifikation der Vergiftungen durch die Wissenschaftler erfolgte, war zudem der Anteil von Vergiftungen etwa 10 % niedriger als bei Erhebungen in denen die Teilnehmer*innen selbst berichteten.

Beispiele für Erhebungsmethoden bei Pestizidvergiftungen

  • Ohne Zufallsauswahl der Befragten
    “The field study was limited to a manageable geographical area where female cotton pickers are living and have a great potential to be exposed to pesticides. The villages selected on the willingness of the female workers that participate in the study … After preliminary survey two female groups (13–35 years of age) were selected as cotton pickers and non-pickers (30–37 female in each group) from the selected area.”[1]
  • “Participants were recruited with the assistance of community leaders, churches, and local groups in the study area. Letters were sent to each of these entities, which contained a clear explanation of reasons for the study, study objectives, inclusion criteria, consent to participate, and voluntary participation. These leaders and groups made announcements to the general public or community gatherings for a month. Those farmers who expressed interest in participation were invited to meet at the community leaders’ residence, group meeting locations, or church premises. At these meetings, the principal investigator reviewed the study and explained the content. If the farmer wished to participate, the consent form was signed, and the questionnaire was given to complete.”[2]
  • Mit Zufallsauswahl der Befragten
    “From a universe of approximately 3,500 subjects, a random sample of about 1,100 workers directly exposed to pesticides was performed, considering as such those subjects who mix/load and/or apply pesticides.… As mentioned, applicators are professional workers authorized by the Agriculture, Livestock and Food Ministry to perform their tasks. They usually work in several extensive crops in the same area of the province, as independent professionals (the owners of the machinery) or as employees of an agrarian company.”[3]
  • “The 2005 and 2006 surveys were conducted by a market research company and included 6,359 users in 24 countries … Approximately, 250 users were sampled from each country. In each country, a local market research team identified regions where the use of pesticides was moderate to intensive… The selection of respondents was on the basis of quota sampling and targeted users on smallholdings of below average size and contract spray operators in countries where there were significant numbers of such users. The local market research teams designed their target smallholder farmers in terms of farm size and typical crops grown. Screening questions were used to ensure that the sample satisfied the quota requirements.”[4]
  • “The target population of this survey included male farmers residing in rural areas in South Korea. The sampling frame for this survey was constructed by use of 2010 Korean Agricultural Household Registry data. Primary sampling units were formed out of the local administrative districts. We stratified primary sampling units into three strata based on three variables, which were the number of farm households, the farm household population by age group (<15, 15–65, >65) and the proportion of households residing in apartments. The selection of a 3% limit of error in the estimate yielded a needed sample size of roughly 2,000. A total of 197 primary sampling units were selected by probability proportional to size sampling method. In the final sampling stage, the sample size in a primary sampling unit was 10. Trained interviewers visited each selected household and explained about the study.”[5]

3.2 Erhebungen durch Register

Unter Register versteht man strukturierte Datensammlungen, die etwa Teil der amtlichen Statistik (z.B. Todesursachenstatistik) sein können oder zur Erfassung und zum Monitoring von Krankheiten eigens eingerichtet wurden (z.B. Krebsregister). Als Registerdaten bezeichnet man auch solche Daten, die primär etwa zu Abrechnungszwecken erhoben werden und sekundär für Fragen des Gesundheitsmonitorings und der Gesundheitsforschung herangezogen werden (z.B. Krankenhausentlassungen, Arbeitsunfähigkeit, Berufskrankheiten). Registerdaten kennzeichnet, dass sie standardisiert erfasst, über längere Zeiträume und für verschiedene Regionen und Bevölkerungsgruppen vorliegen.

In einigen dieser Register sind auch Angaben zu Pestizidvergiftungen enthalten oder diese wurden eigens zum Monitoring von Pestizidvergiftungen angelegt. Die eigentliche Identifikation von Pestizidvergiftungen erfolgt aber immer bereits vor Erfassung der Daten, nämlich z.B. bei der Behandlung im Krankenhaus oder der Leichenschau. Werden Pestizidvergiftungen auf ärztlichen Dokumenten spezifiziert, so muss davon ausgegangen werden, dass hierfür hinreichende medizinische oder forensische Evidenz vorgelegen hat. Registerdaten zu Pestizidvergiftungen basieren daher vornehmlich auf einer verlässlichen Identifikation von Vergiftungsfällen.

Gleichzeitig ist davon auszugehen, dass Pestizidvergiftungen in Registern untererfasst sind, da sie von einer Dokumentation der Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten und der Effektivität von Meldesystemen abhängen. Beides ist in vielen Ländern der Welt nur begrenzt vorhanden. Die Inanspruchnahme wird dadurch behindert, dass Personen, die an einer akuten Pestizidvergiftung leiden, aus einer Vielzahl von Gründen oft keine medizinische Versorgung erhalten. Fehlende Transportmöglichkeiten, fehlende medizinischer Einrichtungen, mangelnde finanzielle Mittel, sprachliche und kulturelle Barrieren oder der Angst vor dem Verlust der bezahlten Arbeit sind hierfür bekannte Barrieren. Die länderspezifischen Meldesysteme können weitere Ursachen für die Untererfassung sein, darunter das Fehlen einer allgemeinen, verbindlichen gesetzlichen Pflicht zur Meldung von Vorfällen, oder eine regionale Eingrenzung. Schließlich ist eine erhebliche Untererfassung von arbeitsbedingten Pestizidvergiftungen zu erwarten, weil die entsprechende Klassifikation der Krankheiten, der sogenannte ICD-Schlüssel, (ICD für englisch: International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) nicht verwendet oder entsprechende Daten nicht gemeldet werden.

4  Herausforderung: Dokumentation und Verschlüsselung akuter Pestizidvergiftungen

Nachdem Pestizidvergiftungen als solche erkannt worden sind, stellt sich die Frage der Benennung und Dokumentation. Hierfür wird auf Systematiken zurückgegriffen, die Krankheitsbilder nach feststehenden Kriterien bezeichnen und hierarchisch gruppieren. Die Internationale Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme der WHO (ICD) ist die weit verbreitete und insbesondere für Registerdaten übliche Systematik, die derzeit noch in ihrer 10. Revision (ICD10) verwendet wird. Die ICD10 ermöglicht nicht nur eine je nach Verwendungszweck unterschiedliche Differenzierung, sondern auch die Kennzeichnung, ob eine Pestizidvergiftung vorsätzlich oder unabsichtlich erfolgte (vgl. Tabelle). Über eine weitere Verfeinerung des ICD-Schlüssels lässt sich z.B. auch ein Ort an dem sich der Vorfall ereignete, hinzufügen. ICD10-Code „X487“ steht für landwirtschaftliche Betriebe, umfasst jedoch nur Gebäude und Anbauflächen, nicht aber Wohnhaus und Hausgrundstück. Die Kodierung des Ortes von Vergiftungen hängt von Kontextinformationen zu den spezifischen Vergiftungsfällen ab; diese Daten stehen der kodierenden Einrichtung jedoch häufig nicht zur Verfügung.

Die Eignung der ICD10 zum Monitoring von Pestizidvergiftungen ist begrenzt, da nur wenig Wirkstoffgruppen (vgl. Tabelle) explizit erwähnt sind und damit eine Identifikation besonders bedeutsamer Wirkstoffe nicht erfolgen kann. Die ICD10 regelt auch nicht, in welcher Tiefe eine Verschlüsselung zu erfolgen hat oder in welcher Reihenfolge mehrere Krankheiten verschlüsselt werden. Dies wird durch die jeweiligen Register und Statistiken vorgegeben und richtig sich im Wesentlichen nach dem primären Verwendungszweck. In der deutschen Krankenhausentlassungsstatistik etwa kann nicht zwischen suizidalen und unabsichtlichen Vergiftungen unterschieden werden. Auch die Verschlüsselungsprinzipien sind unterschiedlich. So wird in der Todesursachenstatistik die sogenannte Grunderkrankung kodiert, also die Erkrankung, die direkt zum Tod führte. Im Gegensatz dazu wird in der Krankenhausentlassungsstatistik die Einweisungsursache als so genannte Hauptdiagnose erfasst. So könnte möglicherweise eine tödliche Pestizidvergiftung nach einer depressiven Episode in der Sterbeurkunde als depressive Störung und in der Krankenhausentlassungsstatistik als Pestizidvergiftung kodiert werden.

Am 1. Januar 2022 ist die neuste ICD Version, ICD-11, in Kraft getreten. Im Vergleich zu früheren Versionen bietet die ICD-11 völlig neue Möglichkeiten für die Kodierung von Krankheiten. Durch die Einführung sogenannter Erweiterungsschlüssel ist eine sehr detaillierte Erfassung von Informationen auch bei Vergiftungen möglich. Die Erweiterungsschlüssel umfassen bei Pestiziden auch eine große Anzahl von einzelnen Wirkstoffen, wodurch das Monitoring von Pestizidvergiftungen deutlich verbessert werden könnte. Allerdings ist derzeit noch nicht klar, ob die Erweiterungsschlüssel zwingend etwa in der Todesursachenstatistik geführt werden müssen. Die Umsetzung der ICD-11 setzt in allen Ländern die Änderung einer Vielzahl von Meldesystemen voraus, die Verwendung der ICD-11 wird daher erst in etlichen Jahren erfolgen.

Tabelle: ICD10-Schlüssel zur Kennzeichnung von Pestizidvergiftungen

T60 Toxische Wirkung von Schädlingsbekämpfungsmitteln (Pestiziden) inkl. Holzschutzmittel
T60.0 Organophosphat- und Carbamat-Insektizide
T60.1 Halogenierte Insektizide (exkl. Chlorierte Kohlenwasserstoffe
T60.2 Sonstige Insektizide
T60.3 Herbizide und Fungizide
T60.4 Rodentizide Thallium (exkl. Strychnin und dessen Salze)
T60.8 Andere Schädlingsbekämpfungsmittel
T60.9 Schädlingsbekämpfungsmittel, nicht näher bezeichnet
X48 Akzidentelle Vergiftung durch und Exposition gegenüber Schädlingsbekämpfungsmittel (Pestizide)
X68 Vorsätzliche Selbstvergiftung durch und Exposition gegenüber Schädlingsbekämpfungsmittel

 

Quelle: International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems 10th revisions.  https://icd.who.int/browse10/2016/en#/XIX

5  Schlussfolgerungen

Die Ermittlung der Anzahl der weltweiten vorkommenden Pestizidvergiftungen hängen von der Qualität der Datenquellen und der Vollständigkeit der Datenbanken ab. In wie weit es durch die beschriebenen Herausforderungen zu einer Über- oder Unterschätzung von akuten Pestizidvergiftungen kommt, lässt sich nicht grundsätzlich beurteilen. Aus den beschriebenen Gründen muss allerdings zumindest bei den Registerdaten von einer Unterschätzung ausgegangen werden. Derzeit reichen weder die Daten aus Registern noch aus Befragungen aus, um Unsicherheiten bei der Ermittlung der globalen Vergiftungszahlen auszuschließen. Es fehlt an qualitativ hochwertigen Daten, die alle Länder und Pestizidanwendung abdecken.

Die bestehenden internationalen Datenbanken – wie die über Todesfälle der WHO- sind unvollständig, weil sich nicht alle Länder hieran beteiligen oder ungenau erfasste Daten liefern. Hier sollte verstärkt über die internationale Gemeinschaft Einfluss genommen werden und Länder beim Kapazitätenaufbau unterstützt werden. Nationale Register, die sich auf Krankenhausdaten oder Giftnotrufzentralen stützen, sind oft nicht vollständig, weil sie lediglich bestimmte Regionen oder Meldeanlässe abdecken. Auch sind in den Datenbanken zumeist keine Angaben über Berufe oder zu Kindern zu finden, was für ein wirkungsvolles Vergiftungsmonitoring erforderlich wäre. Die verwendeten Dokumentationssysteme, wie die ICD10, sind für Pestizidvergiftungen nicht ausreichend ausgestaltet, da eine Identifikation relevanter Wirkstoffe und -gruppen nicht möglich ist. Die bestehenden Register zu Pestizidvergiftungen sollten daher dahingehend geprüft und so erweitert werden, dass auch ausreichende Differenzierungen möglich werden. Die internationale Gemeinschaft sollte auf eine zeitnahe Umsetzung der ICD-11 mit verbindlicher Nutzung der Erweiterungsschlüssel hinwirken.

In vielen Ländern gibt es keine Befragungen zu Vergiftungen bei Pestizidanwender*innen. Darüber hinaus fehlt bei Erhebungen eine standardisierte Falldefinition für akute Vergiftungen. Zudem mangelt es an prospektiven Studien, um langfristige Auswirkungen akuter Vergiftungen zu untersuchen. Eine Verbesserung der Datenbasis würde ein regelmäßiges und zuverlässiges Monitoring von Pestizidvergiftungen ermöglichen und die Einschätzung präventiver Maßnahmen unterstützen. Eine entsprechende Forschungsförderung zur Durchführung epidemiologischer Studien sollte erfolgen.

Zu den Ländern mit defizitärer Datenlage gehört auch Deutschland. So konnte in die aktuelle Studie zur Ermittlung der weltweiten unbeabsichtigten Pestizidvergiftungen lediglich Angaben aus der deutschen Todesursachenstatistik einbezogen werden, obwohl die Krankenhausentlassungsstatistik eine Vielfach höhere Anzahl tödlicher Pestizidvergiftungen ausweist. Diese Daten sowie Angaben aus den Giftinformationszentralen mussten unberücksichtigt bleiben, da keine ausreichende Differenzierung in der Statistik möglich ist (z.B. Unfall oder suizidal). Auch das Meldesystem der ärztlichen Mitteilungen bei Vergiftungen, die zwingend durch das Chemikaliengesetz vorgeschrieben sind, ist höchst defizitär. Diese Statistik ist durch eine massive Untererfassung der Fälle und unzureichender Dokumentation und Auswertung gekennzeichnet. Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BFR) hat die Berichterstattung auf Basis dieser Meldungen bereits vor etlichen Jahren ersatzlos eingestellt.[6] Für Deutschland gibt es zudem keinerlei Befragungen zu den gesundheitlichen Auswirkungen des Einsatzes von Pestiziden.

Die verfügbaren Datenquellen und deren Auswertung machen trotz aller Defizite bereits jetzt deutlich, dass Pestizidvergiftungen ein immenses internationales Gesundheitsproblem darstellen, das sofortiges politisches Handeln erfordert. Die in den letzten Jahren international unternommenen Anstrengungen, Programme zur Verbesserung der Sicherheit bei der Verwendung von Pestiziden aufzulegen, haben offenbar nicht zu einer ausreichenden Verbesserung geführt. Es bedarf größerer Anstrengungen beim Umbau zu einer ökologischen Landwirtschaft. Denn es ist klar: Am effektivsten lassen sich Pestizidvergiftungen vermeiden, wenn keine Pestizide eingesetzt werden.

(Dr. Wolfgang Bödeker)

Teil 1 des Beitrags erschien im Pestizid-Briefs Nr 2 – 2023. Beide Teile des Beitrags stehen in einem Gesamtdokument auch hier zum Download bereit.

[1] Tahir S, Anwar T. Bull Environ Contam Toxicol. 2012 Dec;89(6):1138–41.

[2] Tandi TE, Wook CJ, Shendeh TT, Eko EA, Afoh CO. Health. 2014;06(21):2945–58.

[3] Butinof M, Fernandez RA, Stimolo MI, Lantieri MJ, Blanco M, Machado AL, et al. Cad Saude Publica. 2015 Mar;31(3):633–46.

[4] Tomenson JA, Matthews GA. Int Arch Occup Environ Health. 2009 Aug;82(8):935–49.

[5] Lee WJ, Cha ES, Park J, Ko Y, Kim HJ, Kim J. Am J Ind Med. 2012 Sep;55(9):799–807.

[6] https://www.pan-germany.org/download/pestizid-brief/PB1_2016_Vergiftungen_%20%C2%A716e_Meldungen_F.pdf

 

 




Weltweite Pestizidvergiftungen im Fokus – TEIL 1

PAN Germany Pestizid-Brief 2 – 2023

Die Erhebung und Veröffentlichung der weltweiten unbeabsichtigten Pestizidvergiftungen durch Boedeker W, Watts M, Clausing P, Marquez E im Jahr 2020 hat weltweit große Aufmerksamkeit auf ein lange von der internationalen Gemeinschaft vernachlässigtes Thema gelenkt. Nach Auswertung von Vergiftungsdaten kamen die Forscher*innen zu dem Schluss, dass es jedes Jahr global rund 385 Millionen Fälle akuter Pestizid-Vergiftungen gibt. Neben dem Interesse an der Problematik an sich, hat die Studie auch Interesse an dem Zustandekommen der Zahlen geweckt. Der PAN Germany Pestizid-Brief erläutert daher in zwei Teilen das wissenschaftliche Vorgehen und das Zustandekommen der Studienergebnisse.

Teil 1 – Von Landesdaten zur globalen Vergiftungszahl

Die Vergiftung von Menschen durch Pestizide wird seit langem als ernstes Problem gesehen. Bereits 1990 schätzte eine Arbeitsgruppe der Weltgesundheitsorganisation (WHO), dass jährlich etwa eine Million unbeabsichtigte Pestizidvergiftungen auftreten, die zu etwa 20.000 Todesfällen führen. Noch dreißig Jahre später gab es keine Aktualisierung dieser Zahlen, obwohl der Pestizideinsatz weltweit gestiegen ist. Veranlasst durch das internationale Pestizid-Aktions-Netzwerk (PAN) wurde im Jahr 2020 eine Studie veröffentlicht[1], deren Ziel es war, die Anzahl der jährlich vorkommenden unabsichtlichen, akuten Pestizidvergiftungen neu abzuschätzen. Im Folgenden werden das Vorgehen und die Ergebnisse der Studie näher vorgestellt und die Verlässlichkeit der Methodik diskutiert.

1  Was sind akute Pestizidvergiftungen und wie kommen sie zustande?

Pestizide sind Mittel, die gezielt eingesetzt werden, um Organismen, die als störend oder schädlich betrachtet werden, auf chemischen Wegen abzutöten oder zu schädigen. Pestizide umfassen neben den mengenmäßig bedeutenden Herbiziden (Mittel gegen Unkräuter), Insektiziden (gegen Insekten) und Fungiziden (gegen Pilze) auch etwa Akarizide (gegen Milben & Zecken), Nematizide (gegen Würmer) und Rodentizide (gegen Nager).

In diesen Bezeichnungen sind allerdings zwei mögliche Missverständnisse angelegt. Einerseits, dass innerhalb dieser Pestizidgruppen recht ähnliche chemische Substanzen zum Einsatz kämen, und andererseits, es handele sich hierbei um Stoffe, die lediglich selektiv Wirkungen auf die definierten Ziel-Organismen hervorrufen würden. Dem ist nicht so. Pestizide sind auch innerhalb der einzelnen Untergruppen sehr verschiedene chemische Substanzen, die auf Lebewesen diverse schädigende Einflüsse nehmen. Herbizide schädigen Pflanzen auf verschiedene Weisen wie den Eingriff in die Photosynthese, die Blockade des Elektronentransportes, die Hemmung der Energieübertragung, oder indirekte Beeinträchtigung der Zellmembranen. Viele Insektizide vermögen auf unterschiedliche Art die Reizleitung im Nervensystem zu schädigen, andere behindern etwa die Atmung der Insekten. Pestizide verfügen damit grundsätzlich über die Eigenschaft, in lebenswichtige Stoffwechselvorgänge einzugreifen, die in allen oder vielen Organismen eine lebenswichtige Rolle spielen. Hierin liegt auch die Ursache dafür, dass Pestizide als wenig selektiv betrachtet werden: Herbizide verursachen Wirkungen in Ziel- und Nichtzielpflanzen und ebenfalls in Wirbeltieren, Insektizide können gegen Pilze und Fungizide gegen Pflanzen wirksam werden. Pestizide wirken somit generell auf die definierten Zielorganismen und auch auf unbestimmte Nicht-Ziel-Organismen, hierunter auch den Menschen.

Der Kontakt mit Pestiziden kann beim Menschen eine Vielzahl von Symptomen hervorrufen. Allgemeine Beschwerden wie Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Kopf und Gliederschmerzen, Konzentrationsstörungen, Schwächegefühle, Kreislaufstörungen, Schwindel, Übelkeit, Erbrechen, Sehstörungen, Hautausschlag, Hautjucken, Zittern, Schreckhaftigkeit gehören zum Vergiftungsbild. Nur bei wenigen Stoffen sind darüber hinaus charakteristische Wirkungen bei Menschen beschrieben wie etwa die Hemmung bestimmter Enzyme. Als akute Pestizidvergiftung bezeichnet man jede Krankheit oder Gesundheitsstörung, die infolge eines Kontakts mit Pestiziden innerhalb eines kürzeren Zeitraums – meist von bis zu 48 Stunden – auftritt. Chronisch andauernde Erkrankungen wie Krebserkrankungen, Asthma und Allergien sowie Frühgeburten und Wachstumsstörungen gelten daher nicht als akute Pestizidvergiftungen, können aber deren Folge sein.

2  Vorgehen zur Erstellung der Studie

Für die Abschätzung der Anzahl der weltweit jährlich vorkommenden akuten unbeabsichtigten Pestizidvergiftungen (englisch unintentional pesticide poisoning – UAPP) wurde zunächst eine Auswertung der wissenschaftlichen Literatur vorgenommen. Zusätzlich wurden öffentlich verfügbare Daten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verwendet. Die Ergebnisse wurden zunächst länderbezogen zusammengefasst und schließlich diese nationalen Angaben auf Weltregionen hochgerechnet.

2.1.1  Literaturrecherche

Die Auswertung der wissenschaftlichen Literatur erfolgte durch einen sogenannten systematischen Review. Hierunter versteht man das Erstellen einer Übersicht über den Stand eines Forschungsfeldes, in dem die verfügbare wissenschaftliche Literatur nach festgelegten Regeln möglichst vollständig zusammengetragen und analysiert wird. Als primäre Quellen dienten die elektronischen Literaturdatenbanken PUBMED, EMBASE und Web of Science. Zusätzlich wurden weitere Veröffentlichungen einbezogen, indem die Literaturlisten der Veröffentlichungen abgeglichen wurden. Eingeschlossen wurden alle Veröffentlichungen, die unabsichtliche, tödliche und nichttödliche Vergiftungen durch Pestizide abdeckten. Ziel war es, die Anzahl der UAPP für genau definierte Populationen und Zeiträume zu ermitteln. Studien, die sich ausschließlich mit suizidalen Pestizidvergiftungen oder Langzeitfolgen wie Krebserkrankungen befassen, wurden ausgeschlossen. Zudem wurden lediglich Studien einbezogen, die nach 2005 veröffentlicht wurden. Um bei der Auswertung Fehler zu vermeiden, wurde jede Publikation von zwei der Autor*innen unabhängig bearbeitet und die Ergebnisse abgeglichen. Von insgesamt 824 in Betracht kommenden Publikationen verblieben schließlich 157 Publikationen, deren Daten als für die Studie verwendbar eingestuft werden konnten.

2.1.2  WHO-Mortalitätsdatenbank

Die WHO erfasst jährliche, Länder bezogene Angaben über Todesfälle, die von den zuständigen nationalen Behörden der teilnehmenden Länder registriert und übermittelt werden. Als zugrundeliegende Todesursache wird die Krankheit oder Verletzung erfasst, die die Abfolge von Krankheitsereignissen auslöste, die direkt zum Tod führten, oder die Umstände des Unfalls oder der Gewalteinwirkung, die zu der tödlichen Verletzung führten. Die meisten Länder melden Todesursachen unter Verwendung der Internationalen Klassifikation der Krankheiten der WHO (ICD für englisch: International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems)[2]. Für die Studie wurden Daten nur der Länder einbezogen, die nach der ICD-Version 10 berichten, da in dieser Version Pestizidvergiftungen differenzierter erfasst werden. Diese Daten wurden in der Studie für die jeweils letzten 5 Jahre nach 2005 extrahiert.

2.1.3  Länderbezogene Synopsen

Um die Datenbasis für die weltweiten Schätzungen zu erstellen, wurden zunächst für jedes Land die Informationen aus den o.g. Datenquellen zusammengefasst und bewertet. Sofern hierdurch nicht schon nationale Angaben zur Anzahl von UAPP vorlagen, wurden diese aus den Studienergebnissen extrapoliert. Die Hochrechnung erfolgte nur für die jeweilige Studienpopulation, d. h. es wurde z. B. auf eine Angabe für die Gesamtbevölkerung verzichtet, wenn die Studienbasis nur Beschäftigte in der Landwirtschaft bestand. Sofern Informationen aus mehr als einer Datenquelle vorlagen, wurden die aktuelleren Informationen verwendet oder der Durchschnitt gebildet.

2.1.4  Weltweite Schätzung

Für die Schätzung der jährlichen weltweiten UAPP wurden die nationalen Angaben zugrunde gelegt. Die länderspezifischen Fallzahlen wurden für Regionen summiert, wobei sich die Zuordnung der Länder an der Einteilung der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) orientierte. Sodann wurde die Gesamtzahl der Pestizidvergiftungen aller Länder innerhalb der Regionen unter Berücksichtigung ihres jeweiligen Bevölkerungsanteils addiert. Hierbei wurde angenommen, dass sich die Angaben der Länder, für die Daten vorliegen, auf Länder ohne Daten in derselben Region übertragen lassen.

Beispiel: Für nicht tödliche Pestizidvergiftungen in der FAO-Region Europe-Northern waren lediglich Angaben für England verfügbar. Laut einer Studie gaben 23 % der dort befragten Farmer und Landarbeiter Vergiftungssymptome innerhalb von 48 Stunden nach dem Pestizideinsatz an. Auf Basis einer landwirtschaftlichen Bevölkerung von 397.175 ergeben sich hochgerechnet 91.350 Pestizidvergiftungen in UK. Da UK 43 % der landwirtschaftlichen Bevölkerung der FAO-Region Europe-Northern stellt, ergeben sich daraus insgesamt 211.580 Pestizidvergiftungen für diese Region.

Dieses Verfahren wurde getrennt für tödliche und nicht-tödliche UAPP angewandt. Für die nicht tödlichen Vergiftungen wurde die Schätzung für die in der Landwirtschaft tätige Bevölkerung durchgeführt, da diese durch Studien gut abgedeckt war. Die tödlichen Pestizidvergiftungen wurden für die Allgemeinbevölkerung berechnet, da durch die WHO-Daten die arbeitsbedingten tödlichen Vergiftungen nicht korrekt abgebildet werden.

3  Ergebnisse

Insgesamt konnten Vergiftungsangaben für 141 Länder erfasst werden. Die Angaben stützten sich auf insgesamt 157 Veröffentlichungen, die 58 Länder betrafen. Für 115 Länder lagen Daten aus der WHO-Mortalitätsdatenbank vor. Diese Veröffentlichungen belegten etwa 740.000 akute jährliche Pestizidvergiftungen, davon 7.446 Todesfälle und 733.921 nicht-tödliche Fälle. Auf dieser Grundlage und unter Einberechnung der Bevölkerungszahlen wurde errechnet, dass jährlich weltweit etwa 385 Millionen unabsichtliche akute Pestizidvergiftungen auftreten, darunter etwa 11.000 Todesfälle. Bei einer weltweiten landwirtschaftlichen Bevölkerung von etwa 860 Millionen bedeutet dies, dass etwa 44 % der in der Landwirtschaft Beschäftigten jedes Jahr durch Pestizide vergiftet werden. Die höchste Zahl von UAPP-Fällen für Südasien ermittelt, gefolgt von Südostasien und Ostafrika (vgl. folgende Tabelle).

Tabelle: Anzahl geschätzter Pestizidvergiftungen nach Regionen

      Tödliche Pestizidvergiftungen Nicht-tödliche Pestizidvergiftungen
Region Subregion Population Länder mit Daten Fälle Länder mit Daten Fälle
AFRICA East 405,425,679 3 81 6 50,936,173
Middle-Southern 217,729,520 1 67 1 21,213,838
Northern 228,846,848 3 154 1 9,647,501
Western 362,197,544 1 0 6 33,833,710
AMERICA Caribbean 43,278,165 19 8 1 576,445
Central 174,988,756 8 296 1 3,835,727
North 359,792,066 3 6 1 1,377
South 420,434,194 12 229 6 7,934,306
ASIA Central 70,118,950 4 4 0 .
Eastern 1,616,177,218 5 338 2 16,696,758
South-Eastern 641,760,625 5 159 6 55,243,562
Southern 1,846,671,142 3 9,401 5 180,303,510
Western Asia 262,879,373 12 39 3 3,663,972
EUROPE Eastern 293,011,923 7 75 0 .
Northern 96,464,409 8 1 1 211,580
Southern 160,067,370 13 14 2 1,268,217
Western 195,338,358 7 7 1 139,357
OCEANIA AUS, NZ, Polynesia 40,153,128 3 3 1 1,251
 All all 7,435,335,268 117 10,881 44 385,507,286

 

Tabelle_Anzahl_geschaetzter-Pestizidvergiftungen-nach-Regionen

4  Diskussion

4.1.1  Sind die neuen Schätzungen verlässlich?

Die Schätzung der aktuellen Studie liegt mit 385 Millionen deutlich über der bis dahin weit verbreiteten WHO-Zahl aus dem Jahr 1990, die von etwa 1 Million jährlicher UAPP-Fälle ausging. Diese Zahl bezog sich jedoch nur auf Vergiftungen mit schwerwiegenden Symptomen und stützte sich hauptsächlich auf Krankenhausdaten. Die WHO kam damals zu dem Schluss, dass die Zahl der Vergiftungen durch eine größere Zahl nicht gemeldeter, aber leichter Vergiftungen und akuter Erkrankungen ergänzt werden müsste. Bei der Überprüfung der WHO-Schätzungen ging man von 25 Millionen Fälle nicht gemeldeter, leichter Vergiftungen in Entwicklungsländern aus. Diese Schätzung basierte aber nur auf Erhebungen aus zwei asiatischen Ländern, wobei 6,7 % der Landarbeiter in Malaysia und 2,7 % in Sri Lanka pro Jahr als von Pestizidvergiftungen betroffen galten. Für diese beiden Länder konnten in der aktuellen Studie keine Daten einbezogen werden. Laut der aktuellen Studie liegt der Anteil der Pestizidvergiftungen bei den Beschäftigten in der Landwirtschaft mit 44 % aber deutlich höher. Die Studienangaben reichen vom niedrigsten Wert 0,05 % in den USA bis zu einem Höchstwert von 84 % in Burkina Faso. Gleichbleibend hohe Raten von UAPP wurden in Südasien und Südostasien festgestellt, meist im Bereich von 54-65 %. Auch in Afrika wurden hohe Raten festgestellt, die von 21 % in der Elfenbeinküste bis zu 84 % in Burkina Faso reichten.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Schätzungen der aktuellen Studie auf einer besseren Abdeckung der Länder und mehr Daten im Vergleich zu früheren Studien basieren. Ein Anstieg der Pestizidvergiftungen könnte zudem auf den Anstieg des weltweiten Pestizideinsatzes zwischen 1990 und 2017 zurückzuführen sein. Während der weltweite Anstieg des Pestizideinsatzes in Tonnagen etwa 80 % betrug, beinhaltet dies einen Anstieg um 484 % in Südamerika und einen Anstieg um 97 % in Asien, verglichen mit einem Rückgang in Europa um 3 %. Es ist also wahrscheinlich, dass heute weltweit viel mehr in der Landwirtschaft Tätige Pestiziden ausgesetzt sind und dass sie durch die häufigere Anwendung stärker exponiert sind.

Auch die Schätzungen der aktuellen Studie zu den globalen Pestizidvergiftungen basieren teilweise noch auf einer schwachen Datenbasis. Für viele Länder liegen weiterhin keine Daten vor, einige Länder sind nur durch eine einzige Veröffentlichung oder durch Daten über kleine Stichproben bestimmter Studienpopulationen abgedeckt.

5  Schlussfolgerungen

Obgleich die neuen Vergiftungszahlen erschreckend hoch sind, muss davon ausgegangen werden, dass diese Zahlen nach wie vor die tatsächliche Situation unterschätzen, unter anderem, da viele Staaten keine zentrale Meldestelle haben bzw. weil es dort keinen rechtlichen Mechanismus gibt, der die Meldung solcher Pestizidvergiftungsfälle vorschreibt. Dass nicht mehr verlässliche Daten zum Vergiftungsgeschehen von den jeweiligen Länderbehörden erhoben und veröffentlicht werden und nicht mehr Studien in der notwendigen Qualität verfügbar sind, sollte dringend geändert werden.

Pestizidvergiftungen ereignen sich gehäuft in den Ländern des globalen Südens. Einerseits kommen hier noch hochtoxische Pestizide zum Einsatz, die in der EU längst verboten sind. Andererseits ist Schutzkleidung oft nicht vorhanden oder für die klimatischen Bedingungen ungeeignet. Zudem sind die Anwenderinnen und Anwender oft nicht ausreichend über die Gefahren von Pestiziden informiert, nicht in der Handhabung von Chemikalien und Sprühgeräten geschult oder es fehlt die Möglichkeit, benutzte Geräte und Arbeitskleidung getrennt und unzugänglich von den Wohnbereichen aufzubewahren oder zu reinigen.

Der Pestizid-Verhaltenskodex von 2014 sowie die 2016 publizierten Richtlinien zum Umgang mit hochgefährlichen Pestiziden der FAO und WHO besagen, dass auf Pestizide verzichtet werden sollte, deren Anwendung den Einsatz von persönlicher Schutzausrüstung erfordern, wenn diese unbequem, teuer oder nicht verfügbar ist. Dies gelte insbesondere für die Anwendung durch Kleinbäuer*innen und Landarbeiter*innen in heißen Klimazonen. Zudem sollte ein Verbot von besonders toxischen Pestiziden in Betracht gezogen werden, die unter Armutsbedingungen grundsätzlich nicht ohne Vergiftungsrisiko eingesetzt werden können. Die Empfehlungen sind allerdings bislang nicht ausreichend umgesetzt und nicht auf eine verbindliche Rechtsgrundlage gestellt. Es fehlt zudem an dem verbindlichen Bekenntnis zu agrarökologischen Alternativen zu hochgefährlichen Pestiziden. Solche Alternativen würden die unannehmbar hohe Zahl an Pestizidvergiftungen drastisch reduzieren. Mehrere Studien haben gezeigt, dass die Abschaffung hochgefährlicher gefährlicher Pestizide nicht zwangsläufig zu einer Verringerung der landwirtschaftlichen Produktivität führen.

(Dr. Wolfgang Bödeker)

Teil 2 des Beitrags erscheint in der kommenden Ausgabe des Pestizid-Briefs.

[1] Boedeker W, Watts M, Clausing P, Marquez E 2020. The global distribution of acute unintentional pesticide poisoning: estimations based on a systematic review. BMC Public Health (2020) 20:1875 https://doi.org/10.1186/s12889-020-09939-0

[2] Mehr hierzu findet sich in Teil 2 der Veröffentlichung sowie unter https://icd.who.int/browse10/2019/en




Neue Erkenntnisse zur Kanzerogenität von Glyphosat

Die Kontroverse über die Kanzerogenität von Glyphosat und Herbiziden auf Basis von Glyphosat (Glyphosate-Based Herbicides – GBHs) hält an. Während die Krebsagentur der Weltgesundheitsagentur (IARC) 2015 Glyphosat/GBH als „wahrscheinlich krebserregend“ für Menschen einstufte[1], vertreten die meisten Regulierungsbehörden die Auffassung, dass dem Wirkstoff nur ein geringes oder gar kein Krebsrisiko innewohnt. Eine der Schlüsselfragen in diesem Zusammenhang ist, ob es einen Wirkungsmechanismus gibt, der die Verursachung von Krebs durch Glyphosat erklären kann. Der wichtigste generelle Mechanismus bei der Verursachung von Krebs durch Chemikalien ist eine Schädigung des Erbguts, wodurch es zu unkontrollierter Zellvermehrung und damit zur Entstehung von Tumoren kommen kann.

Eine in diesem Monat im Fachmagazin Agrochemicals veröffentlichte Studie überprüfte die seit 2016 erschienenen Publikationen zur Erbgutschädigung durch Glyphosat und GBHs. Die von Charles Benbrook, Robin Mesnage und William Sawyer durchgeführte Analyse zeigt, dass in 24 der 33 Studien mit Glyphosat und 56 der 61 Studien mit GBH eine Erbgutschädigung nachgewiesen wurde. Außerdem wurden in sieben epidemiologischen Studien (Untersuchung von Glyphosat-exponierten Menschen im Vergleich zu einer Kontrollpopulation) erbgutschädigende Effekte festgestellt. Die Autoren vertreten die Ansicht, dass die Schlussfolgerung der Behörden, Glyphosat und GBHs seien nicht erbgutschädigend, unhaltbar ist[2].

Hintergrund der Befassung ist die Entscheidung eines Bundesberufungsgerichts in den USA, das 2022 die Glyphosat-Bewertung der U.S.-Umweltbehörde (EPA) annullierte und die EPA aufforderte, die alten Daten zu überprüfen und neue Daten in ihre bevorstehende, möglicherweise endgültige Entscheidung über die erneute Zulassung von Glyphosat/GBH einzubeziehen.

Die US-Umweltbehörde EPA stufte Glyphosat 1991 als „nicht wahrscheinlich“ krebserregend ein[3]. Eine Entscheidung, die in Behördenberichten aus den Jahren 2017 und 2020 bekräftigt wurde. Die behördliche Anerkennung des Potenzials zur Erbgutschädigung durch Glyphosat hätte erhebliche Auswirkungen auf die Bewertung von Glyphosat als „nicht (bzw. nicht wahrscheinlich) krebserregend“.

Auch die Europäische Chemikalienagentur (ECHA) schlussfolgerte im Rahmen des laufenden Wiedergenehmigungsverfahren von Glyphosat im Juni 2022, dass weder Beweise für eine Erbgutschädigung noch für die Erzeugung von Krebs durch Glyphosat vorlägen. Eine von unabhängigen Wissenschaftler*innen durchgeführte Analyse der behördlichen Bewertung zeigte, dass erneut das gehäufte Auftreten von Krebs in sämtlichen Mäuse- und mehreren Rattenstudien, mit ähnlich verzerrten Argumenten begründet wurde, wie in der vorangegangenen Bewertung im Jahr 2017. Nachzulesen ist dies in dem gemeinsamen Bericht von HEAL und PAN Germany[4]. Die Behauptung, Glyphosat sei nicht erbgutschädigend, ist ein Grundpfeiler der behördlichen Argumentation. Insofern ist die Publikation von Charles Benbrook und seinen Kollegen ein wichtiger Beitrag zur korrekten Beurteilung der Situation. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass nach EU-Recht eine Einstufung als „wahrscheinlich erbgutschädigend beim Menschen“ ein Glyphosatverbot zur Folge haben müsste.

Quelle: Benbrook, C.; Mesnage, R.; Sawyer, W. Genotoxicity Assays Published since 2016 Shed New Light on the Oncogenic Potential of Glyphosate-Based Herbicides. Agrochemicals 2023, 2, 47–68. https://doi.org/10.3390/agrochemicals2010005

[1] https://www.iarc.who.int/featured-news/media-centre-iarc-news-glyphosate/

[2] https://www.mdpi.com/2813-3145/2/1/5

[3] https://www.iarc.who.int/featured-news/media-centre-iarc-news-glyphosate/

[4] https://pan-germany.org/download/heal-report-how-the-eu-risks-greenlighting-a-pesticide-linked-to-cancer/




Bürgerinitiative „Bienen und Bauern retten!“ – Anhörung im EU Parlament

Die europäische Bürgerinitiative (EBI) „Bienen und Bauern retten!“ wurde gestern Nachmittag in einer vierstündigen Anhörung in Brüssel offiziell dem Petitions-, Umwelt- und dem Landwirtschaftsausschuss des EU Parlaments vorgestellt. Diese EBI ist erst die  siebte erfolgreiche Europäische Bürgerinitiative und nach „Stop Glyphosat“ bereits die zweite, die sich für Pestizidreduktion in der Landwirtschaft einsetzt.

Die Europäische Kommission erläuterte, dass die EBI „Bienen und Bauern retten!“, zusammen mit der früheren Pestizid-Bürgerinitiative „Stop Glyphosat“ sie dazu inspiriert hat, Europas erste rechtsverbindliche Pestizidreduktion um 50 % bis 2030 vorzuschlagen (Farm-to-Fork-Strategie). Darüber hinaus hat die EU Kommission ein Gesetz zur Wiederherstellung der Natur vorgelegt. Beide Vorschläge werden von konservativen Kräften und Interessen der Agrarwirtschaft ernsthaft bedroht, warnten die Organisator*innen der EBI gestern bei der Anhörung.

Dem entgegen steht die Forderung von mehr als einer Million EU Bürger*innen, die die Bürgerinitiative unterstützt haben und ein Ende des Einsatzes von chemisch-synthetischen Pestiziden in der EU bis 2035 fordern, sowie Maßnahmen zur Erholung der Artenvielfalt und die Unterstützung der Landwirt*innen, um die Transformation zu einer nachhaltigen, agrarökologischen Landwirtschaft zu schaffen.

Mit-Initiator der EBI „Bienen und Bauern retten!“ Martin Dermine vom europäischen Pestizid Aktions-Netzwerk (PAN Europe) sagte beim Hearing im EU-Parlament: „Pestizide sind Giftstoffe, die Bienen, Schmetterlinge und andere Bestäuber ebenso töten wie Pflanzen und Mikroorganismen. Pestizide gefährden unsere Gesundheit, allen voran die Gesundheit der Bäuer:innen. Pestizide sind auch ein wesentlicher Faktor für das weltweite Artensterben. Wir müssen jetzt beginnen, mit der Natur und nicht gegen die Natur zu arbeiten! Es ist die Aufgabe der Politik, die Gesundheit der Bürger:innen zu schützen, anstatt der Agrarindustrie den Vorrang zu geben.”

EBI-Mitorganisator Dr. Helmut Burtscher-Schaden von GLOBAL 2000 appellierte: „Wenn wir die Welt, wie wir sie kennen, erhalten wollen, müssen wir die Art und Weise ändern, wie wir mit ihr umgehen. Wenn wir die Ernährungssicherheit langfristig absichern wollen, gibt es keine Alternative zur Pestizidreduktion. Überprüfen Sie Ihre politischen Entscheidungen, hören Sie auf die Wissenschaft und nicht auf die Industrie!“.

Besorgt zeigt sich ebenfalls die Wissenschaft. Jeroen Candel, Assistenzprofessor für Lebensmittel- und Agrarpolitik repräsentierte mehr als 700 Wissenschaftler*innen aus verschiedenen europäischen Mitgliedsstaaten und wissenschaftlichen Disziplinen, die in einem Appell ihre tiefe Besorgnis über die jüngste politische Wende in Bezug auf die Verordnung zur nachhaltigen Nutzung von Pestiziden (SUR) zum Ausdruck brachten.

Der französische Getreidebauer Jean-Bernard Lozier, der den Pestizideinsatz in seinem Betrieb um 80 % reduzieren konnte, betonte, dass trotz dieser erheblichen Reduzierung
keine nennenswerten Ertragseinbußen zu verzeichnen sind, sich aber der Arbeitsaufwand verringert habe. „Ich bin ein glücklicher Landwirt, und die Rentabilität meines Betriebs ist mit der meiner Nachbarn vergleichbar“, so Lozier.

Synthetische Pestizide stellen laut EU-Offiziellen erhebliche Risiken für die Gesundheit der Bürger dar und verursachen akute und langfristige Gesundheitsschäden, insbesondere bei Kindern und vor allem auch bei Landwirt*innen. Aufgrund des Artensterbens habe bereits die Hälfte aller europäischen Landwirtschaftsbetriebe mit Bestäubungsproblemen zu kämpfen. Synthetische Pestizide sollten „nur als letztes Mittel“ eingesetzt werden, sonst riskieren wir eine „düstere“ Zukunft, so die Beamten.

124 verschiedene Pestizide sind im Hausstaub von europäischen Landwirt*innen zu finden. Dies geht aus der ersten umfassenden Erhebung über die Pestizidkontamination in Europa hervor (SPRINT), die Violette Geissen, Professorin an der Universität Wageningen, bei der Anhörung vorstellte. Bis zu 85 verschiedene Pestizide werden im Hausstaub von Nicht-Landwirt*innen gefunden, wenn auch in niedrigeren Konzentrationen, sagte sie.

Professor Geissen zeigte auf, dass Pestizidrückstände in Ökosystemen und beim Menschen allgegenwärtig sind, die meisten von ihnen gefährlich seien, aber niemand sagen könnte, wie hoch das tatsächliche Risiko ist, wenn man Mischungen mit einer hohen Anzahl von Pestiziden ausgesetzt wäre. Sie betonte in ihrem Beitrag, dass es Rechtsvorschriften bedürfe, die das Vorsorgeprinzip anwenden und den Einsatz und die Reduzierung von Pestiziden regeln.

Die EU hat sich bereits 1993 verpflichtet, Pestizide zu reduzieren. Doch trotz Zielvorgaben und Gesetzen ist sie weitgehend gescheitert, vor allem wegen des Widerstands der Mitgliedsstaaten. Die Klima- und Biodiversitätskrise erlaubt keine „Business as usual“-Politik, so die Initaitor*innen der EBI.

Kritische Mitgliedsstaaten und europäische Abgeordnete sollten aufhören, sich den Entwürfen für Pestizid- und Naturschutzgesetze zu widersetzen, und die bestehenden Befugnisse sollten besser durchgesetzt werden, so die EBI-Initiator*innen.
Letzte Woche hat der Europäische Gerichtshof die Regierungen aufgefordert, die häufige Praxis einzustellen, Landwirt*innen den weiteren Einsatz von verbotenen Pestiziden im Rahmen so genannter Notfallzulassungen zu erlauben. Laut einer im Januar veröffentlichten Analyse offizieller Daten haben die Regierungen in den letzten Jahren in Hunderten von Fällen „Ausnahmeregelungen für Notfälle“ in Anspruch genommen. Die 12 giftigsten Pestizide sollten schnellstens verboten werden, so die NGOs.

Es wird erwartet, dass die Verhandlungen über die von der Kommission vorgeschlagenen Reduzierungen von Pestiziden nur langsam vorankommen werden.