Frauen, Landwirtschaft und Pestizide

PAN Germany Pestizid-Brief 4 – 2023

Frauen machen im Durchschnitt 43 Prozent der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte weltweit aus. In Deutschland liegt der Ausbildungsanteil von Frauen in der Landwirtshaft bei lediglich 20 Prozent und ihr Beschäftigungsanteil in der Landwirtschaft bei 38 Prozent. In anderen Regionen der Welt sieht dies anders aus. So arbeiten fast 70 Prozent der erwerbstätigen Frauen in Südasien und mehr als 60 Prozent der erwerbstätigen Frauen in Afrika südlich der Sahara in der Landwirtschaft.

Ob zur Selbstversorgung in der Subsistenzlandwirtschaft, in informellen oder formellen Arbeitsverhältnissen, Frauen sind routinemäßig giftigen Pestiziden ausgesetzt. Doch so schwierig es ist, in vielen Regionen den tatsächlichen Beitrag der Frauen in der Landwirtschaft zu messen, so schwierig ist es auch, die tatsächlichen Auswirkungen von Pestiziden auf Frauen zu erfassen.

In bestimmten Ländern und beim Anbau bestimmter Kulturen wird ein erheblicher Teil der Pestizide von Frauen ausgebracht, zum Beispiel auf Kaffee- und Obstfarmen in Südafrika, auf Bananenplantagen in Costa Rica oder in Malaysia, wo es allein im Plantagensektor schätzungsweise 300.000 Sprüherinnen gibt. Plantagenarbeiterinnen in Indonesien, Malaysia und auf den Philippinen sind durch das Mischen, Verladen und Versprühen von Pestiziden häufig hochgefährlichen Pestiziden ausgesetzt. Die Arbeitgeber stellen oft keine persönliche Schutzausrüstung (PSA) zur Verfügung, so dass die Frauen improvisieren, indem sie sich Schals um das Gesicht wickeln oder BH-Körbchen als Masken oder Atemschutzmasken verwenden. Wenn Pestizide verschüttet und versehentlich mit ihrem Körper in Kontakt kommen, ignorieren die Frauen dies oder waschen sich im Fluss und arbeiten danach in nasser Kleidung weiter.

Frauen können auch unwissentlich mit Pestiziden in Berührung kommen, wenn sie z. B. Unkraut jäten oder ernten, wofür keine PSA erforderlich scheint. Frauen in Blumenfarmen in Kenia, die mehr mit dem Jäten, Schneiden und Verpacken von Blumen beschäftigt sind als ihre männlichen Kollegen, zeigen häufiger Vergiftungssymptome als die Männer, die das eigentliche Sprühen übernehmen.

Jüngste Zahlen zu Pestizid-Vergiftungen gehen davon aus, dass es jährlich zu 385 Millionen unbeabsichtigter, nicht-tödlicher Pestizidvergiftungen kommt. Dies bedeutet, dass etwa 44 Prozent der in der Landwirtschaft tätigen Weltbevölkerung – 860 Millionen Landwirt*innen und Landarbeiter*innen – jedes Jahr mindestens eine Vergiftung erleiden. Es liegen jedoch keine ausreichenden Daten vor, um die Häufigkeit von Vergiftungen bei Frauen abzuschätzen, da es noch immer an nach Geschlechtern aufgeschlüsselten Daten und einer geschlechtsspezifischen Perspektive in der arbeitsmedizinischen Forschung mangelt. Dieser Mangel wurde auch von der Weltgesundheitsorganisation bestätigt.

Aufgrund traditioneller Geschlechterrollen sind Frauen durch Hausarbeiten wie dem Waschen von Spritzgeräten oder pestizidverunreinigter Kleidung der Männer, mit der Lagerung von Pestiziden oder der Entsorgung von Pestizidbehältern stark mit Pestiziden belastet. In Vietnam ergab eine Studie, dass mehr Mädchen als Jungen angaben, durch das Waschen von Sprühbehältern Pestiziden ausgesetzt zu sein. Studien in Bolivien, Südafrika und Tansania zeigen zudem, dass Frauen aufgrund ihres geringeren Bildungsniveaus und ihres eingeschränkten Zugangs zu Schulungen stärker von Pestiziden betroffen sind.

Auch die Auswirkungen von Pestiziden auf Frauen und Mädchen unterscheiden sich von den Auswirkungen auf Männer und Jungen. Juckreiz im Vaginalbereich, abnormale Menstruationsblutungen und eine hohe Zahl von Tot- und Fehlgeburten gehören zu den Auswirkungen auf die reproduktive Gesundheit, von denen Sprüherinnen in Indonesien und auf den Philippinen berichten. Viele Frauen arbeiten weiter in Arbeitsumgebungen, in denen sie Pestiziden ausgesetzt sind, wenn sie schwanger sind oder stillen. In Südindien ergab eine Studie, dass 68 Prozent der Arbeiterinnen auf Teeplantagen bis einschließlich zum sechsten Monate der Schwangerschaft arbeiten.

Frauen haben im Allgemeinen einen höheren Anteil an Körperfett und speichern daher eher Schadstoffe, die sich im Fettgewebe und in der Muttermilch anreichern können. Zudem haben Frauen einen höheren Anteil an hormonell empfindlichem Gewebe, was sie anfälliger insbesondere für hormonaktive oder das endokrine System schädigende Pestizide macht. Es besteht ein nachgewiesener Zusammenhang zwischen Brustkrebs und bestimmten Pestiziden, die als Brustkrebserreger und Tumorpromotoren wirken. Rückstände von chlororganischen Pestiziden, die sich nur langsam abbauen und in der Nahrungskette bioakkumulieren, darunter auch in der Landwirtschaft verbotene Pestizide wie DDT, wurden bei Brustkrebspatientinnen nachgewiesen. Pestizide werden auch mit Endometriose in Verbindung gebracht, einer schmerzhaften Erkrankung, die zu Unfruchtbarkeit führen und ein erhebliches Risiko für die reproduktive Gesundheit von Frauen und ihr ungeborenes Kind darstellen kann. Pestizide werden von der Mutter über den Mutterleib und das Stillen an das Kind weitergegeben und stehen in Verbindung mit Todesfällen bei Neugeborenen, Geburtsfehlern und geistigen Entwicklungsstörungen oder tiefgreifenden Entwicklungsproblemen bei Kindern. Studien auf dem Gebiet der Epigenetik zeigen zudem, dass die Exposition gegenüber Pestiziden die Genaktivität und die vererbten physiologischen Eigenschaften beeinflussen kann.

Nach Erkenntnissen der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) investieren Frauen bis zu 90 Prozent ihres Einkommens wieder in ihre Haushalte. Das erwirtschaftete Geld wird von ihnen für Ernährung, Gesundheit, Schule und einkommensschaffende Aktivitäten ausgegeben. Studien der FAO belegen zudem: Wenn Bäuerinnen den gleichen Zugang zu Ressourcen hätten wie Männer, könnten die Ernteerträge um fast ein Drittel gesteigert werden. Frauen sind nicht nur Motor für Produktionssteigerungen, sondern auch für Veränderungen in der Landwirtschaft. In der Landwirtschaft tätige Frauen im globalen Süden spielen anerkanntermaßen eine Schlüsselrolle beim Übergang hin zu agrarökologischen Anbausystemen.

Dieser Artikel ist in weiten Teilen eine Übersetzung des Artikels „At the forefront of exposure“ von Ilang-Ilang Quiano, PAN Asia Pacific, erschienen im englischen Pesticide Atlas 2022.
Quellen sind dem Atlas zu entnehmen. Für den PAN Germany Pestizid Brief zum Weltfrauentag 2023 wurde der Artikel in Absprache mit der Autorin geringfügig bearbeitet und ergänzt.




Weltweite Pestizidvergiftungen im Fokus – TEIL 2

PAN Germany Pestizid-Brief 3 – 2023

Die Erhebung und Veröffentlichung der weltweiten unbeabsichtigten Pestizidvergiftungen durch Boedeker W, Watts M, Clausing P, Marquez E im Jahr 2020 hat weltweit große Aufmerksamkeit auf ein lange von der internationalen Gemeinschaft vernachlässigtes Thema gelenkt. Nach Auswertung von Vergiftungsdaten kamen die Forscher*innen zu dem Schluss, dass es jedes Jahr global rund 385 Millionen Fälle akuter Pestizid-Vergiftungen gibt. Neben dem Interesse an der Problematik an sich, hat die Studie auch Interesse an dem Zustandekommen der Zahlen geweckt. Der PAN Germany Pestizid-Brief erläutert daher in zwei Teilen das wissenschaftliche Vorgehen und das Zustandekommen der Studienergebnisse.

Teil 2 – Vergiftungsdaten – Erfassung und Qualität

1  Hintergrund

Die Vergiftung von Menschen durch Pestizide wird seit langem als ernstes Problem gesehen. Bereits 1990 schätzte eine Arbeitsgruppe der Weltgesundheitsorganisation (WHO), dass jährlich etwa eine Million unbeabsichtigte Pestizidvergiftungen auftreten, die zu etwa 20.000 Todesfällen führen. Noch dreißig Jahre später gab es keine Aktualisierung dieser Zahlen, obwohl der Pestizideinsatz weltweit gestiegen ist. Veranlasst durch das international Pestizid-Aktions-Netzwerk (PAN) wurde im Jahr 2020 eine Studie veröffentlicht, deren Ziel es war, die Anzahl akuten Pestizidvergiftungen neu zu bestimmen. Nach der Studie ist von jährlich weltweit etwa 385 Millionen Fällen von akuten, unabsichtlichen Pestizidvergiftungen auszugehen, darunter etwa 11.000 Todesfälle. Bei einer weltweiten landwirtschaftlichen Bevölkerung von etwa 860 Millionen bedeutet dies, dass etwa 44 % der Landwirte jedes Jahr durch Pestizide vergiftet werden.

Die Ergebnisse liegen deutlich über den früheren Schätzungen. Ursache hierfür dürfte sein, dass die Schätzungen der aktuellen Studie auf eine bessere Datenlage in vielen Ländern und der Berücksichtigung mehrerer Datenquellen basieren. Zudem hat sich der Pestizideinsatz weltweit inzwischen nahezu verdoppelt, sodass heute mehr Menschen Pestiziden ausgesetzt sind und sie durch häufigere Anwendung stärker exponiert sind.

Das wissenschaftlich fundierte Verfahren zur Ermittlung der Anzahl von Pestizidvergiftungen stellt hohe Anforderungen an die Datenbasis und Datenqualität. Im Folgenden wird ausgeführt, welche Datenquellen hierfür verfügbar sind und welche Herausforderungen sich für die Schätzung im Hinblick auf die Identifikation, Erhebung und Dokumentation von Pestizidvergiftungen stellen.

2  Herausforderung: Identifikation von akuten Pestizidvergiftungen

Pestizidvergiftungen gehen oft mit unspezifischen Symptomen wie Kopfschmerzen oder Übelkeit einher. Für die Identifikation von Pestizidvergiftungen ist es daher erforderlich, das Auftreten der Symptome in einen Zusammenhang mit der Exposition gegenüber Pestiziden zu stellen. Bei akuten Pestizidvergiftungen ist eine unmittelbare zeitliche Abfolge ausschlaggebend und die Latenzzeit von der Exposition bis zum Auftreten der Symptome ist entscheidend für die Identifikation einer Vergiftung. Würde eine zu kurze Zeitspanne gewählt, so könnten Symptome mit längerer Latenzzeit ausgeschlossen werden und eine Pestizidvergiftung unerkannt bleiben. Eine zu lang gewählte Zeitspanne dagegen könnte Symptome, die auf eine andere Ursache zurückzuführen sind, fälschlicherweise als Folge einer Pestizidexposition erfassen. Entsprechend besteht kein allgemeines Einvernehmen darüber, was eine akute Pestizidvergiftung ist. Häufig wird für die Identifikation von Pestizidvergiftungen auf ein Klassifizierungsinstrument des von der WHO eingerichteten Intergovernmental Forum on Chemical Safety (IFCS) zurückgegriffen . Eine akute Pestizidvergiftung ist nach dieser IFCS-Definition jede Erkrankung oder gesundheitliche Auswirkung, die auf eine vermutete oder bestätigte Exposition gegenüber einem Pestizid innerhalb von 48 Stunden zurückzuführen ist. Die IFCS-Definition stellt zudem beispielhaft für einige Pestizidwirkstoffklassen Symptome und Befunde zusammen, die mit einer Vergiftung einhergehen können. Für die einzelnen Organsysteme (z.B. Nervensystem) werden die Symptome nach hohem, moderaten und niedrigem Schweregrad unterschieden. Schließlich ermöglicht das IFCS-Klassifizierungsinstrument eine Einstufung der Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen einer Pestizidvergiftung, indem Kriterien für Exposition, Symptome/medizinische Befunde und deren zeitliche Abfolge zusammengestellt werden. Je nach Anzahl erfüllter Kriterien kann dann im Einzelfall von einer wahrscheinlichen, möglichen oder unwahrscheinlichen Pestizidvergiftung ausgegangen werden.

3  Herausforderung: Erhebung von akuten Pestizidvergiftungen

Schätzungen der Anzahl von Pestizidvergiftungen basieren zumeist auf Befragungen von Anwender*innen oder auf sogenannten Registerdaten. Während Befragungen in ausgewählten Bevölkerungsgruppen zu ausgewählten Zeitpunkten mit Hilfe vorab konzipierter Fragebögen vorgenommen werden, handelt es sich bei Registern um bestehende Datenbanken (z. B. Sterbefälle oder Krankenhausentlassungen), die oft für große Populationen über einen längeren Zeitraum angelegt sind.

3.1 Erhebungen durch Befragungen

Eine Standardmethode zur Erfassung von Pestizidvergiftungen ist die Befragung von ausgewählten Teilnehmer*innen. Die Zielsetzungen der Studien können sehr verschieden sein und entsprechend werden unterschiedliche Studiendesigns gewählt. Besteht das Interesse etwa lediglich darin, das Ausmaß und die Umstände von Vergiftungen in einer bestimmten Gruppe zu erfassen, so kann die Studienplanung geringere Anforderungen vorsehen als wenn auf Grundlage der Ergebnisse eine allgemeine Aussage oder gar eine Hochrechnung für anderen Gruppen erfolgen soll (siehe Beispiele für Studiendesign im Textkasten). Im letzteren Fall wäre eine repräsentative, ausreichend große und möglichst zufällig ausgewählte Stichprobe erforderlich. Tatsächlich zeigt die aktuelle Studie, dass die Mehrzahl der einbezogenen Studien mit Zufallsstichproben arbeitete, um eine gewisse Repräsentativität für die Studienpopulation zu erreichen. Die Studien richten sich zumeist mit einem Fragebogen direkt an die Teilnehmer*innen und bitten diese darum, aus vorab erstellten Symptomlisten diejenigen auszuwählen, die sie in einem bestimmten Zeitraum nach dem Anwenden von Pestiziden bei sich beobachtet haben. Die Symptomlisten und Fragestellungen beziehen sich häufig auf die IFCS-Definition von akuten Pestizidvergiftungen. Allerdings verwenden nicht alle Studien die gleichen Latenzzeiten, erfassen also z. B. nur Symptome unmittelbar nach dem Sprühen, innerhalb von 24 Stunden oder von bis zu einem Monat. Wenige Studien erfassen zudem so genannte Biomarker, z.B. das Enzym Cholinesterase, das von Organophoshat- und Carbamat-Pestiziden gehemmt wird, so dass eine Vergiftung zusätzlich zur Befragung anhand der Blutwerte der Betroffenen erkannt werden kann: Gelegentlich wird auch versucht, die Pestizide direkt z.B. im Blut der Befragten nachzuweisen. Solche Studienansätze sind indes wenig verbreitet, da hierdurch nur ein Teil der Pestizide erfasst werden kann und die Studien aufwändig und teuer werden.

Die Qualität, mit der Erhebungen geplant und durchführt werden, kann die Ergebnisse beeinflussen. So zeigte die Studie, dass in Erhebungen mit einer repräsentativen Stichprobe der Anteil der Vergiftungen geringer war als bei einfachen Stichproben. Wenn die Identifikation der Vergiftungen durch die Wissenschaftler erfolgte, war zudem der Anteil von Vergiftungen etwa 10 % niedriger als bei Erhebungen in denen die Teilnehmer*innen selbst berichteten.

Beispiele für Erhebungsmethoden bei Pestizidvergiftungen

  • Ohne Zufallsauswahl der Befragten
    “The field study was limited to a manageable geographical area where female cotton pickers are living and have a great potential to be exposed to pesticides. The villages selected on the willingness of the female workers that participate in the study … After preliminary survey two female groups (13–35 years of age) were selected as cotton pickers and non-pickers (30–37 female in each group) from the selected area.”[1]
  • “Participants were recruited with the assistance of community leaders, churches, and local groups in the study area. Letters were sent to each of these entities, which contained a clear explanation of reasons for the study, study objectives, inclusion criteria, consent to participate, and voluntary participation. These leaders and groups made announcements to the general public or community gatherings for a month. Those farmers who expressed interest in participation were invited to meet at the community leaders’ residence, group meeting locations, or church premises. At these meetings, the principal investigator reviewed the study and explained the content. If the farmer wished to participate, the consent form was signed, and the questionnaire was given to complete.”[2]
  • Mit Zufallsauswahl der Befragten
    “From a universe of approximately 3,500 subjects, a random sample of about 1,100 workers directly exposed to pesticides was performed, considering as such those subjects who mix/load and/or apply pesticides.… As mentioned, applicators are professional workers authorized by the Agriculture, Livestock and Food Ministry to perform their tasks. They usually work in several extensive crops in the same area of the province, as independent professionals (the owners of the machinery) or as employees of an agrarian company.”[3]
  • “The 2005 and 2006 surveys were conducted by a market research company and included 6,359 users in 24 countries … Approximately, 250 users were sampled from each country. In each country, a local market research team identified regions where the use of pesticides was moderate to intensive… The selection of respondents was on the basis of quota sampling and targeted users on smallholdings of below average size and contract spray operators in countries where there were significant numbers of such users. The local market research teams designed their target smallholder farmers in terms of farm size and typical crops grown. Screening questions were used to ensure that the sample satisfied the quota requirements.”[4]
  • “The target population of this survey included male farmers residing in rural areas in South Korea. The sampling frame for this survey was constructed by use of 2010 Korean Agricultural Household Registry data. Primary sampling units were formed out of the local administrative districts. We stratified primary sampling units into three strata based on three variables, which were the number of farm households, the farm household population by age group (<15, 15–65, >65) and the proportion of households residing in apartments. The selection of a 3% limit of error in the estimate yielded a needed sample size of roughly 2,000. A total of 197 primary sampling units were selected by probability proportional to size sampling method. In the final sampling stage, the sample size in a primary sampling unit was 10. Trained interviewers visited each selected household and explained about the study.”[5]

3.2 Erhebungen durch Register

Unter Register versteht man strukturierte Datensammlungen, die etwa Teil der amtlichen Statistik (z.B. Todesursachenstatistik) sein können oder zur Erfassung und zum Monitoring von Krankheiten eigens eingerichtet wurden (z.B. Krebsregister). Als Registerdaten bezeichnet man auch solche Daten, die primär etwa zu Abrechnungszwecken erhoben werden und sekundär für Fragen des Gesundheitsmonitorings und der Gesundheitsforschung herangezogen werden (z.B. Krankenhausentlassungen, Arbeitsunfähigkeit, Berufskrankheiten). Registerdaten kennzeichnet, dass sie standardisiert erfasst, über längere Zeiträume und für verschiedene Regionen und Bevölkerungsgruppen vorliegen.

In einigen dieser Register sind auch Angaben zu Pestizidvergiftungen enthalten oder diese wurden eigens zum Monitoring von Pestizidvergiftungen angelegt. Die eigentliche Identifikation von Pestizidvergiftungen erfolgt aber immer bereits vor Erfassung der Daten, nämlich z.B. bei der Behandlung im Krankenhaus oder der Leichenschau. Werden Pestizidvergiftungen auf ärztlichen Dokumenten spezifiziert, so muss davon ausgegangen werden, dass hierfür hinreichende medizinische oder forensische Evidenz vorgelegen hat. Registerdaten zu Pestizidvergiftungen basieren daher vornehmlich auf einer verlässlichen Identifikation von Vergiftungsfällen.

Gleichzeitig ist davon auszugehen, dass Pestizidvergiftungen in Registern untererfasst sind, da sie von einer Dokumentation der Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten und der Effektivität von Meldesystemen abhängen. Beides ist in vielen Ländern der Welt nur begrenzt vorhanden. Die Inanspruchnahme wird dadurch behindert, dass Personen, die an einer akuten Pestizidvergiftung leiden, aus einer Vielzahl von Gründen oft keine medizinische Versorgung erhalten. Fehlende Transportmöglichkeiten, fehlende medizinischer Einrichtungen, mangelnde finanzielle Mittel, sprachliche und kulturelle Barrieren oder der Angst vor dem Verlust der bezahlten Arbeit sind hierfür bekannte Barrieren. Die länderspezifischen Meldesysteme können weitere Ursachen für die Untererfassung sein, darunter das Fehlen einer allgemeinen, verbindlichen gesetzlichen Pflicht zur Meldung von Vorfällen, oder eine regionale Eingrenzung. Schließlich ist eine erhebliche Untererfassung von arbeitsbedingten Pestizidvergiftungen zu erwarten, weil die entsprechende Klassifikation der Krankheiten, der sogenannte ICD-Schlüssel, (ICD für englisch: International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) nicht verwendet oder entsprechende Daten nicht gemeldet werden.

4  Herausforderung: Dokumentation und Verschlüsselung akuter Pestizidvergiftungen

Nachdem Pestizidvergiftungen als solche erkannt worden sind, stellt sich die Frage der Benennung und Dokumentation. Hierfür wird auf Systematiken zurückgegriffen, die Krankheitsbilder nach feststehenden Kriterien bezeichnen und hierarchisch gruppieren. Die Internationale Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme der WHO (ICD) ist die weit verbreitete und insbesondere für Registerdaten übliche Systematik, die derzeit noch in ihrer 10. Revision (ICD10) verwendet wird. Die ICD10 ermöglicht nicht nur eine je nach Verwendungszweck unterschiedliche Differenzierung, sondern auch die Kennzeichnung, ob eine Pestizidvergiftung vorsätzlich oder unabsichtlich erfolgte (vgl. Tabelle). Über eine weitere Verfeinerung des ICD-Schlüssels lässt sich z.B. auch ein Ort an dem sich der Vorfall ereignete, hinzufügen. ICD10-Code „X487“ steht für landwirtschaftliche Betriebe, umfasst jedoch nur Gebäude und Anbauflächen, nicht aber Wohnhaus und Hausgrundstück. Die Kodierung des Ortes von Vergiftungen hängt von Kontextinformationen zu den spezifischen Vergiftungsfällen ab; diese Daten stehen der kodierenden Einrichtung jedoch häufig nicht zur Verfügung.

Die Eignung der ICD10 zum Monitoring von Pestizidvergiftungen ist begrenzt, da nur wenig Wirkstoffgruppen (vgl. Tabelle) explizit erwähnt sind und damit eine Identifikation besonders bedeutsamer Wirkstoffe nicht erfolgen kann. Die ICD10 regelt auch nicht, in welcher Tiefe eine Verschlüsselung zu erfolgen hat oder in welcher Reihenfolge mehrere Krankheiten verschlüsselt werden. Dies wird durch die jeweiligen Register und Statistiken vorgegeben und richtig sich im Wesentlichen nach dem primären Verwendungszweck. In der deutschen Krankenhausentlassungsstatistik etwa kann nicht zwischen suizidalen und unabsichtlichen Vergiftungen unterschieden werden. Auch die Verschlüsselungsprinzipien sind unterschiedlich. So wird in der Todesursachenstatistik die sogenannte Grunderkrankung kodiert, also die Erkrankung, die direkt zum Tod führte. Im Gegensatz dazu wird in der Krankenhausentlassungsstatistik die Einweisungsursache als so genannte Hauptdiagnose erfasst. So könnte möglicherweise eine tödliche Pestizidvergiftung nach einer depressiven Episode in der Sterbeurkunde als depressive Störung und in der Krankenhausentlassungsstatistik als Pestizidvergiftung kodiert werden.

Am 1. Januar 2022 ist die neuste ICD Version, ICD-11, in Kraft getreten. Im Vergleich zu früheren Versionen bietet die ICD-11 völlig neue Möglichkeiten für die Kodierung von Krankheiten. Durch die Einführung sogenannter Erweiterungsschlüssel ist eine sehr detaillierte Erfassung von Informationen auch bei Vergiftungen möglich. Die Erweiterungsschlüssel umfassen bei Pestiziden auch eine große Anzahl von einzelnen Wirkstoffen, wodurch das Monitoring von Pestizidvergiftungen deutlich verbessert werden könnte. Allerdings ist derzeit noch nicht klar, ob die Erweiterungsschlüssel zwingend etwa in der Todesursachenstatistik geführt werden müssen. Die Umsetzung der ICD-11 setzt in allen Ländern die Änderung einer Vielzahl von Meldesystemen voraus, die Verwendung der ICD-11 wird daher erst in etlichen Jahren erfolgen.

Tabelle: ICD10-Schlüssel zur Kennzeichnung von Pestizidvergiftungen

T60 Toxische Wirkung von Schädlingsbekämpfungsmitteln (Pestiziden) inkl. Holzschutzmittel
T60.0 Organophosphat- und Carbamat-Insektizide
T60.1 Halogenierte Insektizide (exkl. Chlorierte Kohlenwasserstoffe
T60.2 Sonstige Insektizide
T60.3 Herbizide und Fungizide
T60.4 Rodentizide Thallium (exkl. Strychnin und dessen Salze)
T60.8 Andere Schädlingsbekämpfungsmittel
T60.9 Schädlingsbekämpfungsmittel, nicht näher bezeichnet
X48 Akzidentelle Vergiftung durch und Exposition gegenüber Schädlingsbekämpfungsmittel (Pestizide)
X68 Vorsätzliche Selbstvergiftung durch und Exposition gegenüber Schädlingsbekämpfungsmittel

 

Quelle: International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems 10th revisions.  https://icd.who.int/browse10/2016/en#/XIX

5  Schlussfolgerungen

Die Ermittlung der Anzahl der weltweiten vorkommenden Pestizidvergiftungen hängen von der Qualität der Datenquellen und der Vollständigkeit der Datenbanken ab. In wie weit es durch die beschriebenen Herausforderungen zu einer Über- oder Unterschätzung von akuten Pestizidvergiftungen kommt, lässt sich nicht grundsätzlich beurteilen. Aus den beschriebenen Gründen muss allerdings zumindest bei den Registerdaten von einer Unterschätzung ausgegangen werden. Derzeit reichen weder die Daten aus Registern noch aus Befragungen aus, um Unsicherheiten bei der Ermittlung der globalen Vergiftungszahlen auszuschließen. Es fehlt an qualitativ hochwertigen Daten, die alle Länder und Pestizidanwendung abdecken.

Die bestehenden internationalen Datenbanken – wie die über Todesfälle der WHO- sind unvollständig, weil sich nicht alle Länder hieran beteiligen oder ungenau erfasste Daten liefern. Hier sollte verstärkt über die internationale Gemeinschaft Einfluss genommen werden und Länder beim Kapazitätenaufbau unterstützt werden. Nationale Register, die sich auf Krankenhausdaten oder Giftnotrufzentralen stützen, sind oft nicht vollständig, weil sie lediglich bestimmte Regionen oder Meldeanlässe abdecken. Auch sind in den Datenbanken zumeist keine Angaben über Berufe oder zu Kindern zu finden, was für ein wirkungsvolles Vergiftungsmonitoring erforderlich wäre. Die verwendeten Dokumentationssysteme, wie die ICD10, sind für Pestizidvergiftungen nicht ausreichend ausgestaltet, da eine Identifikation relevanter Wirkstoffe und -gruppen nicht möglich ist. Die bestehenden Register zu Pestizidvergiftungen sollten daher dahingehend geprüft und so erweitert werden, dass auch ausreichende Differenzierungen möglich werden. Die internationale Gemeinschaft sollte auf eine zeitnahe Umsetzung der ICD-11 mit verbindlicher Nutzung der Erweiterungsschlüssel hinwirken.

In vielen Ländern gibt es keine Befragungen zu Vergiftungen bei Pestizidanwender*innen. Darüber hinaus fehlt bei Erhebungen eine standardisierte Falldefinition für akute Vergiftungen. Zudem mangelt es an prospektiven Studien, um langfristige Auswirkungen akuter Vergiftungen zu untersuchen. Eine Verbesserung der Datenbasis würde ein regelmäßiges und zuverlässiges Monitoring von Pestizidvergiftungen ermöglichen und die Einschätzung präventiver Maßnahmen unterstützen. Eine entsprechende Forschungsförderung zur Durchführung epidemiologischer Studien sollte erfolgen.

Zu den Ländern mit defizitärer Datenlage gehört auch Deutschland. So konnte in die aktuelle Studie zur Ermittlung der weltweiten unbeabsichtigten Pestizidvergiftungen lediglich Angaben aus der deutschen Todesursachenstatistik einbezogen werden, obwohl die Krankenhausentlassungsstatistik eine Vielfach höhere Anzahl tödlicher Pestizidvergiftungen ausweist. Diese Daten sowie Angaben aus den Giftinformationszentralen mussten unberücksichtigt bleiben, da keine ausreichende Differenzierung in der Statistik möglich ist (z.B. Unfall oder suizidal). Auch das Meldesystem der ärztlichen Mitteilungen bei Vergiftungen, die zwingend durch das Chemikaliengesetz vorgeschrieben sind, ist höchst defizitär. Diese Statistik ist durch eine massive Untererfassung der Fälle und unzureichender Dokumentation und Auswertung gekennzeichnet. Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BFR) hat die Berichterstattung auf Basis dieser Meldungen bereits vor etlichen Jahren ersatzlos eingestellt.[6] Für Deutschland gibt es zudem keinerlei Befragungen zu den gesundheitlichen Auswirkungen des Einsatzes von Pestiziden.

Die verfügbaren Datenquellen und deren Auswertung machen trotz aller Defizite bereits jetzt deutlich, dass Pestizidvergiftungen ein immenses internationales Gesundheitsproblem darstellen, das sofortiges politisches Handeln erfordert. Die in den letzten Jahren international unternommenen Anstrengungen, Programme zur Verbesserung der Sicherheit bei der Verwendung von Pestiziden aufzulegen, haben offenbar nicht zu einer ausreichenden Verbesserung geführt. Es bedarf größerer Anstrengungen beim Umbau zu einer ökologischen Landwirtschaft. Denn es ist klar: Am effektivsten lassen sich Pestizidvergiftungen vermeiden, wenn keine Pestizide eingesetzt werden.

(Dr. Wolfgang Bödeker)

Teil 1 des Beitrags erschien im Pestizid-Briefs Nr 2 – 2023. Beide Teile des Beitrags stehen in einem Gesamtdokument auch hier zum Download bereit.

[1] Tahir S, Anwar T. Bull Environ Contam Toxicol. 2012 Dec;89(6):1138–41.

[2] Tandi TE, Wook CJ, Shendeh TT, Eko EA, Afoh CO. Health. 2014;06(21):2945–58.

[3] Butinof M, Fernandez RA, Stimolo MI, Lantieri MJ, Blanco M, Machado AL, et al. Cad Saude Publica. 2015 Mar;31(3):633–46.

[4] Tomenson JA, Matthews GA. Int Arch Occup Environ Health. 2009 Aug;82(8):935–49.

[5] Lee WJ, Cha ES, Park J, Ko Y, Kim HJ, Kim J. Am J Ind Med. 2012 Sep;55(9):799–807.

[6] https://www.pan-germany.org/download/pestizid-brief/PB1_2016_Vergiftungen_%20%C2%A716e_Meldungen_F.pdf

 

 




Weltweite Pestizidvergiftungen im Fokus – TEIL 1

PAN Germany Pestizid-Brief 2 – 2023

Die Erhebung und Veröffentlichung der weltweiten unbeabsichtigten Pestizidvergiftungen durch Boedeker W, Watts M, Clausing P, Marquez E im Jahr 2020 hat weltweit große Aufmerksamkeit auf ein lange von der internationalen Gemeinschaft vernachlässigtes Thema gelenkt. Nach Auswertung von Vergiftungsdaten kamen die Forscher*innen zu dem Schluss, dass es jedes Jahr global rund 385 Millionen Fälle akuter Pestizid-Vergiftungen gibt. Neben dem Interesse an der Problematik an sich, hat die Studie auch Interesse an dem Zustandekommen der Zahlen geweckt. Der PAN Germany Pestizid-Brief erläutert daher in zwei Teilen das wissenschaftliche Vorgehen und das Zustandekommen der Studienergebnisse.

Teil 1 – Von Landesdaten zur globalen Vergiftungszahl

Die Vergiftung von Menschen durch Pestizide wird seit langem als ernstes Problem gesehen. Bereits 1990 schätzte eine Arbeitsgruppe der Weltgesundheitsorganisation (WHO), dass jährlich etwa eine Million unbeabsichtigte Pestizidvergiftungen auftreten, die zu etwa 20.000 Todesfällen führen. Noch dreißig Jahre später gab es keine Aktualisierung dieser Zahlen, obwohl der Pestizideinsatz weltweit gestiegen ist. Veranlasst durch das internationale Pestizid-Aktions-Netzwerk (PAN) wurde im Jahr 2020 eine Studie veröffentlicht[1], deren Ziel es war, die Anzahl der jährlich vorkommenden unabsichtlichen, akuten Pestizidvergiftungen neu abzuschätzen. Im Folgenden werden das Vorgehen und die Ergebnisse der Studie näher vorgestellt und die Verlässlichkeit der Methodik diskutiert.

1  Was sind akute Pestizidvergiftungen und wie kommen sie zustande?

Pestizide sind Mittel, die gezielt eingesetzt werden, um Organismen, die als störend oder schädlich betrachtet werden, auf chemischen Wegen abzutöten oder zu schädigen. Pestizide umfassen neben den mengenmäßig bedeutenden Herbiziden (Mittel gegen Unkräuter), Insektiziden (gegen Insekten) und Fungiziden (gegen Pilze) auch etwa Akarizide (gegen Milben & Zecken), Nematizide (gegen Würmer) und Rodentizide (gegen Nager).

In diesen Bezeichnungen sind allerdings zwei mögliche Missverständnisse angelegt. Einerseits, dass innerhalb dieser Pestizidgruppen recht ähnliche chemische Substanzen zum Einsatz kämen, und andererseits, es handele sich hierbei um Stoffe, die lediglich selektiv Wirkungen auf die definierten Ziel-Organismen hervorrufen würden. Dem ist nicht so. Pestizide sind auch innerhalb der einzelnen Untergruppen sehr verschiedene chemische Substanzen, die auf Lebewesen diverse schädigende Einflüsse nehmen. Herbizide schädigen Pflanzen auf verschiedene Weisen wie den Eingriff in die Photosynthese, die Blockade des Elektronentransportes, die Hemmung der Energieübertragung, oder indirekte Beeinträchtigung der Zellmembranen. Viele Insektizide vermögen auf unterschiedliche Art die Reizleitung im Nervensystem zu schädigen, andere behindern etwa die Atmung der Insekten. Pestizide verfügen damit grundsätzlich über die Eigenschaft, in lebenswichtige Stoffwechselvorgänge einzugreifen, die in allen oder vielen Organismen eine lebenswichtige Rolle spielen. Hierin liegt auch die Ursache dafür, dass Pestizide als wenig selektiv betrachtet werden: Herbizide verursachen Wirkungen in Ziel- und Nichtzielpflanzen und ebenfalls in Wirbeltieren, Insektizide können gegen Pilze und Fungizide gegen Pflanzen wirksam werden. Pestizide wirken somit generell auf die definierten Zielorganismen und auch auf unbestimmte Nicht-Ziel-Organismen, hierunter auch den Menschen.

Der Kontakt mit Pestiziden kann beim Menschen eine Vielzahl von Symptomen hervorrufen. Allgemeine Beschwerden wie Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Kopf und Gliederschmerzen, Konzentrationsstörungen, Schwächegefühle, Kreislaufstörungen, Schwindel, Übelkeit, Erbrechen, Sehstörungen, Hautausschlag, Hautjucken, Zittern, Schreckhaftigkeit gehören zum Vergiftungsbild. Nur bei wenigen Stoffen sind darüber hinaus charakteristische Wirkungen bei Menschen beschrieben wie etwa die Hemmung bestimmter Enzyme. Als akute Pestizidvergiftung bezeichnet man jede Krankheit oder Gesundheitsstörung, die infolge eines Kontakts mit Pestiziden innerhalb eines kürzeren Zeitraums – meist von bis zu 48 Stunden – auftritt. Chronisch andauernde Erkrankungen wie Krebserkrankungen, Asthma und Allergien sowie Frühgeburten und Wachstumsstörungen gelten daher nicht als akute Pestizidvergiftungen, können aber deren Folge sein.

2  Vorgehen zur Erstellung der Studie

Für die Abschätzung der Anzahl der weltweit jährlich vorkommenden akuten unbeabsichtigten Pestizidvergiftungen (englisch unintentional pesticide poisoning – UAPP) wurde zunächst eine Auswertung der wissenschaftlichen Literatur vorgenommen. Zusätzlich wurden öffentlich verfügbare Daten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verwendet. Die Ergebnisse wurden zunächst länderbezogen zusammengefasst und schließlich diese nationalen Angaben auf Weltregionen hochgerechnet.

2.1.1  Literaturrecherche

Die Auswertung der wissenschaftlichen Literatur erfolgte durch einen sogenannten systematischen Review. Hierunter versteht man das Erstellen einer Übersicht über den Stand eines Forschungsfeldes, in dem die verfügbare wissenschaftliche Literatur nach festgelegten Regeln möglichst vollständig zusammengetragen und analysiert wird. Als primäre Quellen dienten die elektronischen Literaturdatenbanken PUBMED, EMBASE und Web of Science. Zusätzlich wurden weitere Veröffentlichungen einbezogen, indem die Literaturlisten der Veröffentlichungen abgeglichen wurden. Eingeschlossen wurden alle Veröffentlichungen, die unabsichtliche, tödliche und nichttödliche Vergiftungen durch Pestizide abdeckten. Ziel war es, die Anzahl der UAPP für genau definierte Populationen und Zeiträume zu ermitteln. Studien, die sich ausschließlich mit suizidalen Pestizidvergiftungen oder Langzeitfolgen wie Krebserkrankungen befassen, wurden ausgeschlossen. Zudem wurden lediglich Studien einbezogen, die nach 2005 veröffentlicht wurden. Um bei der Auswertung Fehler zu vermeiden, wurde jede Publikation von zwei der Autor*innen unabhängig bearbeitet und die Ergebnisse abgeglichen. Von insgesamt 824 in Betracht kommenden Publikationen verblieben schließlich 157 Publikationen, deren Daten als für die Studie verwendbar eingestuft werden konnten.

2.1.2  WHO-Mortalitätsdatenbank

Die WHO erfasst jährliche, Länder bezogene Angaben über Todesfälle, die von den zuständigen nationalen Behörden der teilnehmenden Länder registriert und übermittelt werden. Als zugrundeliegende Todesursache wird die Krankheit oder Verletzung erfasst, die die Abfolge von Krankheitsereignissen auslöste, die direkt zum Tod führten, oder die Umstände des Unfalls oder der Gewalteinwirkung, die zu der tödlichen Verletzung führten. Die meisten Länder melden Todesursachen unter Verwendung der Internationalen Klassifikation der Krankheiten der WHO (ICD für englisch: International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems)[2]. Für die Studie wurden Daten nur der Länder einbezogen, die nach der ICD-Version 10 berichten, da in dieser Version Pestizidvergiftungen differenzierter erfasst werden. Diese Daten wurden in der Studie für die jeweils letzten 5 Jahre nach 2005 extrahiert.

2.1.3  Länderbezogene Synopsen

Um die Datenbasis für die weltweiten Schätzungen zu erstellen, wurden zunächst für jedes Land die Informationen aus den o.g. Datenquellen zusammengefasst und bewertet. Sofern hierdurch nicht schon nationale Angaben zur Anzahl von UAPP vorlagen, wurden diese aus den Studienergebnissen extrapoliert. Die Hochrechnung erfolgte nur für die jeweilige Studienpopulation, d. h. es wurde z. B. auf eine Angabe für die Gesamtbevölkerung verzichtet, wenn die Studienbasis nur Beschäftigte in der Landwirtschaft bestand. Sofern Informationen aus mehr als einer Datenquelle vorlagen, wurden die aktuelleren Informationen verwendet oder der Durchschnitt gebildet.

2.1.4  Weltweite Schätzung

Für die Schätzung der jährlichen weltweiten UAPP wurden die nationalen Angaben zugrunde gelegt. Die länderspezifischen Fallzahlen wurden für Regionen summiert, wobei sich die Zuordnung der Länder an der Einteilung der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) orientierte. Sodann wurde die Gesamtzahl der Pestizidvergiftungen aller Länder innerhalb der Regionen unter Berücksichtigung ihres jeweiligen Bevölkerungsanteils addiert. Hierbei wurde angenommen, dass sich die Angaben der Länder, für die Daten vorliegen, auf Länder ohne Daten in derselben Region übertragen lassen.

Beispiel: Für nicht tödliche Pestizidvergiftungen in der FAO-Region Europe-Northern waren lediglich Angaben für England verfügbar. Laut einer Studie gaben 23 % der dort befragten Farmer und Landarbeiter Vergiftungssymptome innerhalb von 48 Stunden nach dem Pestizideinsatz an. Auf Basis einer landwirtschaftlichen Bevölkerung von 397.175 ergeben sich hochgerechnet 91.350 Pestizidvergiftungen in UK. Da UK 43 % der landwirtschaftlichen Bevölkerung der FAO-Region Europe-Northern stellt, ergeben sich daraus insgesamt 211.580 Pestizidvergiftungen für diese Region.

Dieses Verfahren wurde getrennt für tödliche und nicht-tödliche UAPP angewandt. Für die nicht tödlichen Vergiftungen wurde die Schätzung für die in der Landwirtschaft tätige Bevölkerung durchgeführt, da diese durch Studien gut abgedeckt war. Die tödlichen Pestizidvergiftungen wurden für die Allgemeinbevölkerung berechnet, da durch die WHO-Daten die arbeitsbedingten tödlichen Vergiftungen nicht korrekt abgebildet werden.

3  Ergebnisse

Insgesamt konnten Vergiftungsangaben für 141 Länder erfasst werden. Die Angaben stützten sich auf insgesamt 157 Veröffentlichungen, die 58 Länder betrafen. Für 115 Länder lagen Daten aus der WHO-Mortalitätsdatenbank vor. Diese Veröffentlichungen belegten etwa 740.000 akute jährliche Pestizidvergiftungen, davon 7.446 Todesfälle und 733.921 nicht-tödliche Fälle. Auf dieser Grundlage und unter Einberechnung der Bevölkerungszahlen wurde errechnet, dass jährlich weltweit etwa 385 Millionen unabsichtliche akute Pestizidvergiftungen auftreten, darunter etwa 11.000 Todesfälle. Bei einer weltweiten landwirtschaftlichen Bevölkerung von etwa 860 Millionen bedeutet dies, dass etwa 44 % der in der Landwirtschaft Beschäftigten jedes Jahr durch Pestizide vergiftet werden. Die höchste Zahl von UAPP-Fällen für Südasien ermittelt, gefolgt von Südostasien und Ostafrika (vgl. folgende Tabelle).

Tabelle: Anzahl geschätzter Pestizidvergiftungen nach Regionen

      Tödliche Pestizidvergiftungen Nicht-tödliche Pestizidvergiftungen
Region Subregion Population Länder mit Daten Fälle Länder mit Daten Fälle
AFRICA East 405,425,679 3 81 6 50,936,173
Middle-Southern 217,729,520 1 67 1 21,213,838
Northern 228,846,848 3 154 1 9,647,501
Western 362,197,544 1 0 6 33,833,710
AMERICA Caribbean 43,278,165 19 8 1 576,445
Central 174,988,756 8 296 1 3,835,727
North 359,792,066 3 6 1 1,377
South 420,434,194 12 229 6 7,934,306
ASIA Central 70,118,950 4 4 0 .
Eastern 1,616,177,218 5 338 2 16,696,758
South-Eastern 641,760,625 5 159 6 55,243,562
Southern 1,846,671,142 3 9,401 5 180,303,510
Western Asia 262,879,373 12 39 3 3,663,972
EUROPE Eastern 293,011,923 7 75 0 .
Northern 96,464,409 8 1 1 211,580
Southern 160,067,370 13 14 2 1,268,217
Western 195,338,358 7 7 1 139,357
OCEANIA AUS, NZ, Polynesia 40,153,128 3 3 1 1,251
 All all 7,435,335,268 117 10,881 44 385,507,286

 

Tabelle_Anzahl_geschaetzter-Pestizidvergiftungen-nach-Regionen

4  Diskussion

4.1.1  Sind die neuen Schätzungen verlässlich?

Die Schätzung der aktuellen Studie liegt mit 385 Millionen deutlich über der bis dahin weit verbreiteten WHO-Zahl aus dem Jahr 1990, die von etwa 1 Million jährlicher UAPP-Fälle ausging. Diese Zahl bezog sich jedoch nur auf Vergiftungen mit schwerwiegenden Symptomen und stützte sich hauptsächlich auf Krankenhausdaten. Die WHO kam damals zu dem Schluss, dass die Zahl der Vergiftungen durch eine größere Zahl nicht gemeldeter, aber leichter Vergiftungen und akuter Erkrankungen ergänzt werden müsste. Bei der Überprüfung der WHO-Schätzungen ging man von 25 Millionen Fälle nicht gemeldeter, leichter Vergiftungen in Entwicklungsländern aus. Diese Schätzung basierte aber nur auf Erhebungen aus zwei asiatischen Ländern, wobei 6,7 % der Landarbeiter in Malaysia und 2,7 % in Sri Lanka pro Jahr als von Pestizidvergiftungen betroffen galten. Für diese beiden Länder konnten in der aktuellen Studie keine Daten einbezogen werden. Laut der aktuellen Studie liegt der Anteil der Pestizidvergiftungen bei den Beschäftigten in der Landwirtschaft mit 44 % aber deutlich höher. Die Studienangaben reichen vom niedrigsten Wert 0,05 % in den USA bis zu einem Höchstwert von 84 % in Burkina Faso. Gleichbleibend hohe Raten von UAPP wurden in Südasien und Südostasien festgestellt, meist im Bereich von 54-65 %. Auch in Afrika wurden hohe Raten festgestellt, die von 21 % in der Elfenbeinküste bis zu 84 % in Burkina Faso reichten.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Schätzungen der aktuellen Studie auf einer besseren Abdeckung der Länder und mehr Daten im Vergleich zu früheren Studien basieren. Ein Anstieg der Pestizidvergiftungen könnte zudem auf den Anstieg des weltweiten Pestizideinsatzes zwischen 1990 und 2017 zurückzuführen sein. Während der weltweite Anstieg des Pestizideinsatzes in Tonnagen etwa 80 % betrug, beinhaltet dies einen Anstieg um 484 % in Südamerika und einen Anstieg um 97 % in Asien, verglichen mit einem Rückgang in Europa um 3 %. Es ist also wahrscheinlich, dass heute weltweit viel mehr in der Landwirtschaft Tätige Pestiziden ausgesetzt sind und dass sie durch die häufigere Anwendung stärker exponiert sind.

Auch die Schätzungen der aktuellen Studie zu den globalen Pestizidvergiftungen basieren teilweise noch auf einer schwachen Datenbasis. Für viele Länder liegen weiterhin keine Daten vor, einige Länder sind nur durch eine einzige Veröffentlichung oder durch Daten über kleine Stichproben bestimmter Studienpopulationen abgedeckt.

5  Schlussfolgerungen

Obgleich die neuen Vergiftungszahlen erschreckend hoch sind, muss davon ausgegangen werden, dass diese Zahlen nach wie vor die tatsächliche Situation unterschätzen, unter anderem, da viele Staaten keine zentrale Meldestelle haben bzw. weil es dort keinen rechtlichen Mechanismus gibt, der die Meldung solcher Pestizidvergiftungsfälle vorschreibt. Dass nicht mehr verlässliche Daten zum Vergiftungsgeschehen von den jeweiligen Länderbehörden erhoben und veröffentlicht werden und nicht mehr Studien in der notwendigen Qualität verfügbar sind, sollte dringend geändert werden.

Pestizidvergiftungen ereignen sich gehäuft in den Ländern des globalen Südens. Einerseits kommen hier noch hochtoxische Pestizide zum Einsatz, die in der EU längst verboten sind. Andererseits ist Schutzkleidung oft nicht vorhanden oder für die klimatischen Bedingungen ungeeignet. Zudem sind die Anwenderinnen und Anwender oft nicht ausreichend über die Gefahren von Pestiziden informiert, nicht in der Handhabung von Chemikalien und Sprühgeräten geschult oder es fehlt die Möglichkeit, benutzte Geräte und Arbeitskleidung getrennt und unzugänglich von den Wohnbereichen aufzubewahren oder zu reinigen.

Der Pestizid-Verhaltenskodex von 2014 sowie die 2016 publizierten Richtlinien zum Umgang mit hochgefährlichen Pestiziden der FAO und WHO besagen, dass auf Pestizide verzichtet werden sollte, deren Anwendung den Einsatz von persönlicher Schutzausrüstung erfordern, wenn diese unbequem, teuer oder nicht verfügbar ist. Dies gelte insbesondere für die Anwendung durch Kleinbäuer*innen und Landarbeiter*innen in heißen Klimazonen. Zudem sollte ein Verbot von besonders toxischen Pestiziden in Betracht gezogen werden, die unter Armutsbedingungen grundsätzlich nicht ohne Vergiftungsrisiko eingesetzt werden können. Die Empfehlungen sind allerdings bislang nicht ausreichend umgesetzt und nicht auf eine verbindliche Rechtsgrundlage gestellt. Es fehlt zudem an dem verbindlichen Bekenntnis zu agrarökologischen Alternativen zu hochgefährlichen Pestiziden. Solche Alternativen würden die unannehmbar hohe Zahl an Pestizidvergiftungen drastisch reduzieren. Mehrere Studien haben gezeigt, dass die Abschaffung hochgefährlicher gefährlicher Pestizide nicht zwangsläufig zu einer Verringerung der landwirtschaftlichen Produktivität führen.

(Dr. Wolfgang Bödeker)

Teil 2 des Beitrags erscheint in der kommenden Ausgabe des Pestizid-Briefs.

[1] Boedeker W, Watts M, Clausing P, Marquez E 2020. The global distribution of acute unintentional pesticide poisoning: estimations based on a systematic review. BMC Public Health (2020) 20:1875 https://doi.org/10.1186/s12889-020-09939-0

[2] Mehr hierzu findet sich in Teil 2 der Veröffentlichung sowie unter https://icd.who.int/browse10/2019/en




Europäische Chemikalien Strategie ohne Abstriche verabschieden!

Neue Publikation kritisiert Angriff auf den Entwurf der EU-Kommission

PAN Germany Pestizid-Brief 1 – 2023

Vor mehr als zwei Jahren, im Oktober 2020 veröffentlichte die EU-Kommission ihren Entwurf einer Chemikalienstrategie, kurz CSS (für Chemicals Strategy for Sustainability), die dem Leitbild einer giftfreien Umwelt folgt und bestrebt ist, „die Umwelt und die menschliche Gesundheit, insbesondere die von gefährdeten Gruppen“ besser zu schützen. Dieser fortschrittliche Entwurf, der unter anderem ein Exportverbot für in der EU verbotene Chemikalien und einen besseren Schutz vor hormonschädlichen Substanzen vorsieht, wartet nach wie vor auf seine Umsetzung in geltendes EU-Recht.

Stattdessen häufen sich die Angriffe auf den CSS-Entwurf, der auch eine Stärkung des „gefahrenbasierten“ Ansatzes enthält, also ein Verbot von Substanzen aufgrund ihrer Stoffeigenschaften, ohne die Möglichkeit, diese mittels unangemessener Risikobewertung zu verharmlosen. Der gefahrenbasierte Ansatz ist bereits Teil der EU-Pestizidzulassungsverordnung (EC 1107/2009)[1], wird allerdings auch dort immer wieder nur halbherzig angewendet.[2] Dieser Ansatz ist eine Einschätzung der Stoffeigenschaften einer Chemikalie. Wenn das Gefahrenpotenzial zu groß ist, zum Beispiel wenn der Stoff als „wahrscheinlich krebserregend beim Menschen“ eingestuft wird, würde ein Verbot erfolgen. Die Gegner dieses Ansatzes möchten den Stoff über eine Risikobewertung dann ggf. trotzdem genehmigen können.

Eine der Attacken auf die CSS kam vom Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR). Diese Behörde, gegen die – daran sei erinnert – im Zuge des damaligen Wiedergenehmigungsverfahrens für Glyphosat im März 2016 Strafanzeige wegen wissenschaftlichen Betrugs erstattet wurde,[3] stellte die Wissenschaftlichkeit des CSS-Ansatzes in Frage. In einem Gastkommentar in der Fachzeitschrift Archives of Toxicology erhoben Mitarbeiter des BfR schwere Anschuldigungen gegen die EU-Kommission.[4] In Ihrer Schlussfolgerung mahnen die Autoren des Beitrags, dass der „wissenschaftliche Diskussionsprozess nicht allein auf der Grundlage von Behauptungen funktionieren“ könne, und beschuldigen die EU-Kommission, ungerechtfertigte Ansichten und Ängste zu schüren, was zur „Erosion der wissenschaftlichen Glaubwürdigkeit der Behörden“ führen würde. Dabei übergeht das BfR geflissentlich seinen eigenen Beitrag zur Erosion der wissenschaftlichen Glaubwürdigkeit der Behörden in Form der Verbreitung falscher Argumente, die nur allzu durchschaubar waren.[5]

In einer im Januar 2023 veröffentlichten Analyse[6] unterzogen Prof. Erik Millstone (Universität Sussex, UK) und Dr. Peter Clausing (PAN Germany) den Gastkommentar der BfR-Mitarbeiter einer kritischen Analyse. Ihre Analyse kommt zu dem Schluss, dass sich das BfR auf „Wissenschaftlichkeit“ beruft und sich zugleich mit seinen eigenen Argumenten weit von der selbst eingeforderten Wissenschaftlichkeit entfernt. Eine wesentliche Kritik von Millstone & Clausing ist, dass die BfR-Autoren wertebasierte Urteile als objektive wissenschaftliche „Wahrheiten“ präsentieren, statt deutlich zu machen, dass sich die von ihnen vertretenen Ansichten im Grenzbereich von Politik und Wissenschaft befinden und mithin eine starke subjektive Komponente enthalten. Diese Art der Vernebelung durch das BfR ist nicht neu. So hat das BfR im Jahr 2016, im Zuge der damaligen Glyphosat-Diskussion, durch eine Vermischung von Risiko (Risk) und Gefahr (Hazard) in der Öffentlichkeit Verwirrung gestiftet. Der Einladung sich auf die „mehrfach von ihm selbst eingeforderte sachliche, wissenschaftsbasierte Diskussion“ einzulassen, ist die Behörde nicht gefolgt.[7]

Die Analyse von Millstone & Clausing unterzieht zudem die vom BfR aufgestellten Behauptungen einer kritischen Prüfung, dass in den Bereichen der regulatorischen Stoffbewertung zur Hormonschädigung, Reproduktionstoxizität und Chemikalien-Cocktails alles in bester Ordnung sei. So demonstriert zum Beispiel ein Blick in die EU-Statistik zum Auftreten von Organmissbildungen bei Neugeborenen, dass die Behauptung der BfR-Autoren falsch ist, dass sich an der Häufigkeit solcher Fälle in den letzten 40 Jahren nichts geändert hätte.[8] Tatsächlich sind solche Missbildungen häufiger geworden. Ganz unberücksichtigt lässt das BfR die Frage, ob ein besseres Chemikalien- bzw. Pestizidmanagement im Verlauf von vier Jahrzehnten die Zahl von 200 Fällen pro 10.000 Neugeborenen nicht sogar hätte verringern müssen. Wenn es stimmt, dass „… Institutionen, wie das deutsche Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR), eine jahrzehntelange Erfahrung in der praktischen Anwendung und Weiterentwicklung der Prinzipien und Methoden der Wissenschaft der regulatorischen Risikobewertung für den Gesundheitsschutzes in der EU (haben)“[9], sollte man eine solche Reduktion eigentlich erwarten können.

Der Angriff durch das BfR ist nicht die einzige Attacke gegen die CSS. Auch die Industrie selbst macht mobil, wie ein vor wenigen Wochen durchgeführtes Webinar mit dem Thema „Two Years Later: How Has the Chemicals Strategy for Sustainability Changed REACH and CLP Regulations?” deutlich macht.[10] Es gibt also gute Gründe, die weitere Entwicklung wachsam zu verfolgen und sich dafür einzusetzen, dass der CSS-Entwurf einerseits nicht verwässert und andererseits möglichst bald in geltendes Recht überführt wird.

Die Publikation ist auch in englischer Sprache erhältlich.

(Dr. Peter Clausing)

[1] https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:32009R1107&from=de

[2] https://pan-germany.org/pestizide/neuer-bericht-zeigt-bewertung-von-krebseffekten-bei-4-von-10-pestiziden-fehlerhaft/

[3] https://www.global2000.at/news/glyphosat-zulassungsbeh%C3%B6rde-informierte-falsch

[4] https://doi.org/10.1007/s00204-021-03091-3

[5] vgl. Clausing, P. (2017): Krebsgefahr durch Glyphosat: Der „Weight of Evidence Approach“ des BfR.   Umwelt – Hygiene – Arbeitsmedizin 22 (1): 27 – 34.

[6] https://doi.org/10.1017/err.2022.41

[7] https://archiv.pan-germany.org/pan-germany.org_180405/www.pan-germany.org/download/The_Carcinogenic_Hazard_of_Glyphosate.pdf

[8] https://eu-rd-platform.jrc.ec.europa.eu/eurocat/eurocat-data/prevalence_en, zusammengefasst in Tabelle 1 von https://doi.org/10.1017/err.2022.41

[9] https://doi.org/10.1007/s00204-021-03091-3, Seite 259 (eigene Übersetzung)

[10] https://www.reachblog.com/2022/12/register-now-webinar-two-years-later-how-has-the-chemicals-strategy-for-sustainability-changed-reach-and-clp-regulations/




Glyphosat in der EU: Noch ein Jahr bis zum Ende der laufenden Genehmigung

PAN Germany Pestizid-Brief 4 – 2021

In einem Jahr, am 15.12.2022, läuft die EU-Genehmigung für das Totalherbizid Glyphosat aus. Wir nehmen dies zum Anlass, einen kritischen Blick auf das laufende Wiedergenehmigungsverfahren im Hinblick auf die Prüfung der Karzinogenität des umstrittenen Herbizid-Wirkstoffs zu werfen.

Behörden der Niederlande, Frankreichs, Ungarns und Schwedens haben als „Assessment Group on Glyphosate“ (AGG) im laufenden Verfahren die von der Industrie eingereichten Unterlagen geprüft und im Juni 2021 ihren vorläufigen Bewertungsbericht an die Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) und die Europäische Chemikalienagentur (ECHA) weitergeleitet. Die Behörden gaben in dem Bericht bekannt, dass eine Einstufung von Glyphosat im Hinblick auf Karzinogenität nicht gerechtfertigt sei. [1] Für PAN Germany ist diese Einschätzung nicht nachvollziehbar.

Am 22. November 2021 endete die achtwöchige öffentliche Konsultation zum gemeinsamen Berichtsentwurf [2] von ECHA (für die Gefahreneinstufung zuständig) und EFSA (für die Risikobewertung verantwortlich), an der sich auch PAN Germany und Partnerorganisationen aus ganz Europa beteiligt hatten. Bei der Durchsicht der Krebsbewertung wurde deutlich, dass sich fast alle Punkte wiederfanden, die bereits am letzten Bewertungsbericht kritisiert wurden. [3] Für PAN Germany steht fest: Durch die Wiederholung fehlerhafter Argumente und die verzerrte Anwendung geltender Leitlinien wird weder eine korrekte Bewertung erzielt, noch trägt diese Herangehensweise dazu bei, Vertrauen in die Behörden aufzubauen.

Zu den wichtigsten Mängeln der behördlichen Bewertung gehören:

  • Die Bezugnahme auf eine angebliche „Grenzdosis“ von 1.000 mg/kg Körpergewicht, um den beobachteten Anstieg der Tumorinzidenz bei höheren Dosen zu entkräften. Wie in den geltenden Richtlinien eindeutig festgelegt, existiert für Krebsstudien eine solche Grenzdosis überhaupt nicht;
  • Zwar wird von den Behörden eingestanden, dass bei der letzten Bewertung fehlerhafte „historische Kontrolldaten“ verwendet wurden (um Tumorbefunde zu verwerfen). Gleichzeitig wird jedoch in der aktuellen Bewertung verschwiegen, dass die verfügbaren korrekten historischen Kontrolldaten für die Echtheit der Tumorbefunde sprechen;
  • Die verfügbaren Daten belegen für mehrere Studien und Tumortypen das Bestehen einer Dosis-Wirkungs-Beziehung für einen Anstieg der Tumorinzidenzen. Doch statt dies anzuerkennen, vermischen die Behörden die Daten von nicht vergleichbaren Versuchen, um dann zu behaupten, dass solche Dosis-Wirkungs-Beziehungen (d.h. steigende Tumorinzidenzen mit steigenden Dosen) nicht existieren würden;
  • Die Behörden bestehen auf der Verwendung so genannter zweiseitiger statistischer Tests, wodurch die Stärke der statistischen Signifikanz halbiert wird. Zweiseitige Tests wären angemessen, wollte man herausfinden, ob ein Arzneimittel Krebs verursacht oder verhindert. Bei der Bewertung der Krebsgefahr von Pestiziden ist die Frage jedoch nur, ob der Wirkstoff das Potenzial besitzt, Krebs zu verursachen, weshalb ein einseitiger statistischer Test gefragt ist. Die Anwendung zweiseitiger Tests ist hier wissenschaftlich nicht korrekt und schwächt die Aussagekraft.
  • Die Behörden sind gehalten, eine „weight of evidence“-Analyse (Beweiskraftanalyse) durchzuführen. Doch stattdessen betreiben die Behörden eine „Beweis-Demontage“. Sie vermeiden eine integrierte Bewertung der Ergebnisse der Langzeitstudien an Ratten und Mäusen mit epidemiologischen Studien und Studien über einen möglichen Mechanismus der Krebsentstehung: Die epidemiologischen Studien werden im Bewertungsbericht separat zusammengefasst. Zum Beispiel wird nicht „biologische Relevanz“ der erhöhten Inzidenz von Lymphdrüsenkrebs in den Mäusestudien im Zusammenhang mit den Non-Hodgkin-Lymphome beim Menschen diskutiert, obwohl ein signifikant erhöhtes Risiko für Non-Hodgkin-Lymphome in mehreren Studien belegt wurde. Das Thema ist auch Gegenstand zahlreicher Gerichtsverfahren in den USA.
  • „Mechanistische Beweise“, also wissenschaftliche Erkenntnisse darüber, durch welchen Wirkungsmechanismus Krebs hervorgerufen werden kann, sind eine wichtige Komponente bei der Bewertung von Glyphosat und waren Teil der Arbeit der Internationale Agentur für Krebsforschung (IARC). Im vorliegenden Bewertungsbericht werden die existierenden Beweise jedoch völlig ignoriert.

Einer der Mechanismen, wie eine Chemikalie Krebs verursachen kann, ist die Entstehung von „oxidativem Stress“, d. h. die Erzeugung von hochreaktiven (sauerstoffhaltigen) Molekülen durch diese Chemikalie. Eine sehr aussagekräftige Studie, die von Gao und Mitarbeitern 2019 veröffentlicht wurde, zeigt, dass Glyphosat oxidativen Stress in den Nieren von Mäusen verursacht, und liefert damit eine schlüssige Erklärung für die Nierentumore, die in mehreren Krebsstudien an Mäusen beobachtet wurden. [4] Diese Veröffentlichung wird zwar in einem anderen Abschnitt des Entwurfs des Bewertungsberichts erwähnt, findet aber im Kapitel zur Karzinogenität keinerlei Berücksichtigung. Stattdessen behaupten die Behörden ausdrücklich, dass Glyphosat keine Nierentumore verursachen kann, weil Glyphosat ihrer Meinung nach eine „mehr oder weniger reaktionsträge Substanz“ sei.

PAN Germany und andere Organisationen haben in der öffentlichen Konsultation auf diese Mängel hingewiesen. Es bleibt abzuwarten, ob die Behörden ehrlich genug sind, um diese Fehler und Verzerrungen im Rahmen der Überarbeitung des Berichtsentwurfs zu korrigieren.

(Dr. Peter Clausing)

Quellen:

[1] https://ec.europa.eu/food/system/files/2021-06/pesticides_aas_agg_report_202106.pdf

[2] https://www.efsa.europa.eu/en/news/glyphosate-efsa-and-echa-launch-consultations

[3] https://jech.bmj.com/content/72/8/668

[4] https://doi.org/10.1002/jat.3795

 

Auf der PAN Germany Webseite finden Sie weitere Beiträge und Materialien zum Thema Glyphosat.




EU-Pläne für eine nachhaltige Lebensmittelpolitik unter Beschuss

PAN Germany Pestizid-Brief 3 – 2021

Die „Farm to Fork“-Strategie zeigt Wirkung und die „Business-as-usual“-Betreiber sind darüber nicht glücklich. Hier äußern Camille Perrin (BEUC), Nick Jacobs (IPES-Food) und Nina Holland (CEO) ihre Besorgnis über Studien und Veranstaltungen, die von Unternehmen unterstützt bzw. organisiert werden, die kein Interesse an einer Pestizid- oder Düngemittelreduktion haben und die gezielt Ängste und Widerstände gegen den eingeschlagenen EU-Weg schüren.

Die „Farm to Fork“-Strategie stand von Anfang an unter heftigem Beschuss. Die Strategie für nachhaltige Lebensmittel und Landwirtschaft, die unter anderem das Ziel hat, sowohl die Menge und das Risiko von chemischen Pestiziden um 50% zu senken als auch den ökologischen Landbau zu fördern, war noch nicht einmal veröffentlicht, als die COVID-19-Pandemie von einigen bereits als Vorwand genutzt wurde, um den Entwurf in Frage zu stellen. Eine fehlerhafte Studie des US-Landwirtschaftsministeriums (USDA) vom November 2020 schürte gezielt Ängste, in dem sie behauptete, die Welt könnte hungern, wenn die EU-Strategien zu „Farm to Fork“ und zur „Biodiversität“ umgesetzt würden. Expert*innen des französischen Nationalen Instituts für Agronomieforschung (INRA) kritisierten die Studie: Sie würde u.a. auf Einzelaspekte fokussieren und den integrativen Ansatz der beiden EU-Strategien ignorieren.

Kurz vor der Verabschiedung der Strategie wurden die Angriffe noch verstärkt. Im Sommer veröffentlichte der interne wissenschaftliche Dienst der Europäischen Kommission (JRC) eine Studie, die Szenarien zur Umsetzung der Strategien modelliert und zu dem Schluss kommt, dass die geplante Verringerung des Einsatzes chemischer Pestizide und Düngemittel erreichbar sei, machte aber auch auf einige Herausforderungen aufmerksam. Die in der Studie geäußerten Unsicherheiten wurden von den „Farm to Fork“-Kritikern genutzt, um ihre Angriffe zu verstärken. Ermutigt wurden sie dabei durch die Veröffentlichung einer „Studie zur Folgenabschätzung“ im August. Die von der Verbändeallianz Grain Club sowie weiterer Verbände, darunter der Industrieverband Agrar und der Deutsche Bauernverband, beauftragte Studie macht dramatische Vorhersagen über zu erwartende Auswirkungen der EU-Pläne, darunter dramatische Produktionsrückgänge bei der Fleischproduktion und deutliche Produktionseinbußen bei Getreide und Ölsaaten.

Von Unternehmen organisierte Veranstaltungen wie der „wissenschaftliche Dialog“ vom 12. Oktober, der von CropLife Europe gesponsert wurde, dienen dazu, übertriebene Ängste zu schüren. Das Programm wurde von Anti-Farm-to-Fork-Lobbyisten, einschließlich des USDA, dominiert. Unerwähnt blieb, dass ein Hauptteilnehmer – die Universität Wageningen – von CropLife dafür bezahlt wird, eine weitere „Impact-Studie“ zu erstellen.

Was haben die bisher veröffentlichten Studien gemeinsam? Sie beruhen auf Modellen, die schlecht geeignet sind, um die Auswirkungen der Umgestaltung unserer Lebensmittelsysteme zu bewerten, um die es bei der „Farm to Fork“-Strategie geht. Die Modelle ignorieren die vielen Veränderungen, die parallel zu einer umweltfreundlicheren Lebensmittelproduktion stattfinden müssen – von einem rigorosen Vorgehen gegen Lebensmittelverschwendung bis hin zu einer veränderten Verbrauchernachfrage, von neuen Beschaffungspraktiken bis hin zur Verringerung des ökologischen Fußabdrucks von Lebens- und Futtermitteln, die wir nach Europa importieren. Diese Veränderungen haben bereits begonnen und sind Teil der „Farm to Fork“-Strategie.
Die benannten Studien unkritisch als Grundlage für die Ablehnung der „Farm to Fork“-Strategie heranzuziehen, ist daher höchst irreführend.

Zu den Autor*innen:

  • Camille Perrin: Leitende Fachreferentin für Lebensmittelpolitik bei der Europäischen Konsumenten Vereinigung BEUC
  • Nick Jacobs: Direktor des International Panel of Experts on Sustainable Food Systems (IPES-Food)
  • Nina Holland: Wissenschaftlerin und Campaignerin bei Corporate Europe Observatory (CEO)

Bei dem vorliegenden Artikel handelt sich um die Übertragung aus dem Englischen des Artikels „The EU finally has the makings of a sustainable food policy – why is it under attack?“, der am 7.10.21 von ARC 2021 veröffentlicht wurde und hier im Original zur Verfügung steht.

PAN Germany Update:
Aktueller Stand zur Abstimmung der Farm to Fark-Strategie im EU-Parlament

Im Vorfeld der Abstimmung im EU-Parlament zur Resolution der Farm to Fork (F2F)-Strategie wurde ein Brief von der Europäischen Bürgerinitiative (EBI) „Bienen und  Bauern retten!“, gezeichnet von 225 europäischen zivilgesellschaftlichen Organisationen,  den EU-Abgeordneten zugesendet, um die Forderungen der EBI und das große Interesse der EU-Bürger*innen für einen schrittweisen Ausstieg aus der Verwendung chemisch-synthetischer Pestizide  nochmals Ausdruck zu verleihen.

Es  galt auch dem massiven Druck von Seiten der Pestizidindustrie und ihrer Unterstützer entgegenzutreten, die versuchen die von der EU-Kommission vorgeschlagene F2F-Strategie aufzuweichen und quantitative Reduktionsziele herauszustreichen.

Am 19. Oktober 2021 kam es zur Abstimmung über die Resolution zur F2F-Strategie und das Abstimmungsergebnis ist weitestgehend positiv zu bewerten. Die Abgeordneten haben in weiten Teilen einer Aufweichung der Strategie nicht zugestimmt. Manches war aber sehr knapp. Bei der wichtigen Abstimmung über die Streichung der Forderung nach verbindlichen Reduktionszielen für chemisch-synthetische Pestizide stimmten 355 Abgeordnete gegen 307. Damit steigt die Hoffnung auf eine wirkliche Pestizidreduktion und Transformation der Landwirtschaft in Europa.

 




Auch in Naturschutzgebieten sind Insekten einer erheblichen Belastung durch Pestizide ausgesetzt

PAN Germany Pestizid-Brief 2 – 2021

Hintergrund
2017 veröffentlichte der Entomologische Verein Krefeld (EVK) in Deutschland zusammen mit der niederländischen Radboud Universität Nijmegen eine Studie über den Rückgang an Insektenbiomasse in mehreren deutschen Naturschutzgebieten (NSG). Die Daten wurden mithilfe standardisierter Malaise-Insektenfallen erhoben[1].
Die Studie kam zu dem Schluss, dass die Insektenbiomasse von Fluginsekten in den 27 Jahren von 1989 bis 2016 um etwa 76 % zurückgegangen ist.
Die Hauptursachen für diesen Rückgang konnten in dieser Studie nicht benannt werden. Es wurden jedoch einige potenzielle Ursachen genannt, wie z.B. die intensiv-konventionelle Landwirtschaft in der Nähe der Untersuchungsgebiete. Messdaten über das Vorkommen von Pestiziden in NSG lagen jedoch nicht vor. Um Informationen über das Vorkommen von Pestiziden in den Naturschutzgebieten und auf angrenzenden Flächen und deren mögliche Auswirkungen auf Insekten zu bekommen, untersuchte ein Forscherteam des WECF (Women Engage for a Common Future e.V.) und Buijs Agro-Services im Herbst 2019 an 32 Standorten in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz insgesamt 89 Vegetations- und Bodenproben sowie Proben von tierischen Exkrementen auf Pestizidbelastungen. Die Studienergebnisse sind in der Veröffentlichung „Insektenschwund und Pestizidbelastung in Naturschutzgebieten in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz“ veröffentlicht[2] und wurden in einem Online-Seminar am 15. März 2021 der Öffentlichkeit vorgestellt[3]. Die wesentlichen Ergebnisse der Untersuchung werden im Folgenden zusammengefasst.

Untersuchungskonzept
Von den 32 untersuchten Standorten befanden sich 22 Standorte in 15 Naturschutzgebieten, ohne landwirtschaftliche Aktivität, 5 Standorte lagen in 3 Gebieten, die entweder direkt an ein NSG angrenzen oder in einem landwirtschaftlich genutzten NSG („Pufferzone“). Zusätzlich wurden Kontroll-Proben auf Pestizide untersucht, die von 5 Referenz-Standorten in 5 bewaldeten Gebieten mit einer Entfernung von 3 bis 5 km zur nächsten Ackerflächen stammten („Referenzgebiete“). Mit Ausnahme der Referenzgebiete, waren die untersuchten Standorte Teil des Forschungsgebiets des Entomologischen Vereins Krefeld. So war es möglich, zumindest indirekt, die Messergebnisse mit den Entwicklungen der Insektenpopulationen in Beziehung zu setzen.

Alle Proben wurden mittels einem Multi-Analyseverfahren auf 661 verschiedene Pestizid-Wirkstoffe, einschließlich einiger Biozide und Metaboliten mit einer Messgenauigkeit (LOQ) von ungefähr 1 Mikrogramm pro Kilogramm Frischgewicht (1 µg/kg) analysiert. Darüber hinaus wurden die Bodenproben auf die Herbizide Glyphosat, seinem Abbauprodukt AMPA sowie auf Glufosinat analysiert. Für die Bewertung der Funde wurde eine toxikologische Literaturrecherche durchgeführt.

Ergebnisse der Untersuchung
Alle untersuchten Vegetation- und Bodenproben, sowie Proben von Exkrementen waren mit Pestiziden belastet. In den 89 untersuchten Proben wurden insgesamt 94 verschiedene Pestizide, einschließlich Bioziden und Metaboliten gefunden. Ein Drittel dieser Substanzen waren zum Zeitpunkt der Probenahme nicht mehr als Pestizid („Pflanzenschutzmittel“-Wirkstoff) oder als Biozid-Wirkstoff zur Anwendung zugelassen, einschließlich der Metabolite nicht zugelassener Muttersubstanzen. Bei einigen der gefundenen nicht-zugelassenen Substanzen wie z.B. DDT oder Lindan wurde davon ausgegangen, dass sie aus historischen Verwendung stammten. Von den 94 gefundenen Pestiziden stammten vier aus anderen als aus gegenwärtigen oder historischen landwirtschaftlichen Quellen, aus dem Straßenverkehr (Verbrennungsmotoren) oder der Industrie wie beispielsweise Papier oder Textilindustrie. Diese 4 Substanzen hatten bis 2008-2013 noch eine Zulassung als Pflanzenschutzmittel oder eine Registrierung als Biozid und sind deswegen in der Studie als Pestizid bewertet. Einige der häufig gefundenen Substanzen wie die Herbizide Pendimethalin und Prosulfocarb wurden bereits in anderen Studien als weitverbreitet in der Luft  nachgewiesen [4].Hierbei handelt es sind vor allem flüchtige und persistente Pestizide, deren Verbreitung über die Luft in der  Umwelt aufgrund ihrer physikalischen Eigenschaften unvermeidlich ist. Unter den 94 insgesamt nachgewiesenen Pestiziden befanden sich 28 Insektizide, Akarizide und ihre Metaboliten. Insgesamt wurden in den beprobten NSG ohne jegliche landwirtschaftliche Nutzung 53 verschiedene Pestizide gefunden. Die Ergebnisse legen nahe, dass Pestizide über die Luft in die Naturschutzgebiete und auch in die als Referenzgebiete ausgewählte Waldgebiete eingetragen werden, selbst wenn diese bis zu 4772 Meter entfernt von bewirtschafteten Agrarflächen liegen.

Risikobewertung aufgrund der Ergebnisse
Das Ziel in der Untersuchung war zunächst herauszufinden, ob NSG mit Pestiziden belastet sind, selbst wenn dort keine Pestizide angewendet werden. Anschließend wurde bewertet, ob die vorgefundenen Pestizide eine negative Auswirkung auf Insekten haben können. Die Untersuchung ermöglicht nicht, eine kausale Beziehung zwischen den gefundenen Pestiziden und ihren direkten oder indirekten Auswirkungen auf Insekten herzustellen. Die Bewertung der Pestizide erfolgte durch Konsultation von internationalen Datenbanken[5], unabhängigen Literaturquellen und der PAN Pesticides Database-Chemicals[6]. Hierüber wurde eine Bestandsaufnahme der physikalisch-chemischen und (öko-)toxikologischen Charakteristika der gefundenen Pestizide vorgenommen. Im Ergebnis konnte so ermittelt werden, dass ist die Hälfte der 94 gefundenen Pestizide erwiesenermaßen oder vermutlich krebserregend oder für Menschen (Säugetiere) genotoxisch sind. Für Insekten gibt es keine Daten zur karzinogenen Wirkung oder zur Genotoxizität. Die ökotoxikologische Risikobewertung im Pestizid-Zulassungsverfahren berücksichtigt nur sehr wenige Invertebraten (Wirbellose) und zudem hauptsächlich die akute Toxizität. Zum Vergleich: in den Malaise-Insektenfallen des EVK wurden in etwa 3000 verschiedene fliegende Insektenarten gefunden

Da viele der 94 nachgewiesenen Pestizide, genotoxisch (z.B. Dieldrin, beta-Endosulfan), kanzerogen (z.B. Etofenprox, Permethrin) und/oder möglicherweise hormonell schädigend (z.B. Pendimethalin, Biphenyl) wirken können, muss befürchtet werden, dass es auch in den Tieren (Insekten) zu chronischen Schädigungen kommen kann.

Bestimmte Substanzen wie Imidacloprid oder Cypermethrin, die auch in dieser Untersuchung gefunden wurden, wirken in experimentellen Studien bereits bei kleinsten Konzentration mit der Zeit schädlich auf Insekten. Für die Mehrzahl der gefundenen Substanzen sind Dosis-Zeit-Wirkungs-Beziehungen in der verfügbaren Literatur allerdings nicht beschrieben.

Die in diesem Bericht vorgestellten Messergebnisse dokumentieren erhebliche Pestizidbelastungen innerhalb der Schutzgebiete und in den angrenzenden als „Pufferzonen“ bezeichneten Flächen. Also an genau den Standorten, an denen die Krefelder-Studie den Rückgang der Insekten über Malaise-Insektenfallen dokumentiert hatte. Dies verstärkt die Annahme auf einen signifikanten Einfluss des Pestizid-Einsatzes in der konventionellen Landwirtschaft, als eine wesentliche Ursache für die schleichende Schädigung der biologischen Vielfalt auch in Schutzgebieten und selbst, wenn Agrarfläche weiter entfernt liegen. Der Nachweis von Pestiziden in und an Pflanzen innerhalb der Naturschutzgebiete ist von besonderer Bedeutung, da sich Insekten und Käfer sich direkt und indirekt von den Pflanzen ernähren und alle anderen Insekten, die mit diesen Pflanzen interagieren, mit den Pestiziden in Kontakt kommen. Auf diese Weise können sich die Pestizide direkt oder indirekt über die Nahrungsketten auf Wirbellose, darunter Würmer, Schnecken und Käfer, auf die räuberische und parasitoide Arten und schließlich auch auf Wirbeltiere wie Vögel, Hamster oder Igel negativ auswirken.

Schlussfolgerungen und Empfehlungen
Das Pestizidzulassungsverfahren und die Anwendungsbestimmungen von Pestiziden bieten offensichtlich keinen ausreichenden Schutz, um Naturschutzgebiete und die darin lebenden Insekten vor einer Exposition gegenüber Pestiziden zu bewahren. Die aktuell verhandelten Gesetzesentwürfe für einen besseren Insektenschutz, deren Grundlage das Aktionsprogramm Insektenschutz (APIS) ist, sollen Insekten – insbesondere in Schutzgebieten – besser vor negativen Auswirkungen von Pestiziden und Bioziden schützen.  Ob dieses Ziel tatsächlich erreicht wird, ist fraglich. Umweltverbände wie PAN Germany kritisieren u. a. dass die Einschränkungen der Pestizidanwendungen nur auf eine kleine Auswahl an Naturschutzgebieten und somit eine viel zu geringe Fläche von ökologisch bedeutsamen Gebieten beschränkt bleiben und auf Agrarflächen keine Pestizidreduktionsmaßnahmen wie pestizidfreie Ausgleichsflächen verbindlich vorgesehen sind (vgl. PAN-Artikel[7]). Die Eigenschaften und Mengen der hier vorgestellten Studie nachgewiesenen Pestizide verursachen sehr wahrscheinlich, negativen Effekte auf die Insektenfauna innerhalb (und wahrscheinlich auch außerhalb) von Schutzgebieten. Deswegen sollten Pestizide und auch Biozide, deren Verbreitung in die Umwelt aufgrund ihrer physikalischen Eigenschaften unvermeidlich ist, aus Sicht der Autor*innen verboten werden. Um mehr über Pestizidbelastungen während der Spritzsaison in Naturschutzgebieten zu erfahren sollten zusätzliche saisonale Untersuchungen in den beprobten Naturschutzgebieten erfolgen. Zudem sollte mehr Forschung über die kausalen Zusammenhänge zwischen dem Rückgang der Insektenzahl und der Insekten-Biomassen und der Pestizidexpositionen betrieben werden. Auf diese Weise ließe sich den Autor*innen zu Folge, die Akzeptanz von Pestizidreduktionsmaßnahmen in der Öffentlichkeit weiter erhöhen. Allerdings sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Insekten- und Biodiversitätsschwund so erheblich, dass ein wirksames Gegensteuern über Pestizidreduktion und einer grundsätzlich umweltschonenderen Landwirtschaft – wie im europäischen Green Deal als Ziel formuliert – sofort beginnen sollte.

Zu den Autor*innen:

  • Jelmer Buijs studierte Pflanzenbau an der Agraruniversität Wageningen in den Niederlanden und ist seit 35 Jahren tätig als Agrarunternehmer, Landwirtschaftsberater und aktiv in der Forschung und Ausbildung.
  • Margriet Mantingh ist klinisch- und biochemische Laborassistent (Ing) und war 20 Jahre bei WECF an internationalen Projekten beteiligt, bei denen die Umweltverschmutzung durch Pestizide ein übergeordnetes Thema war. Sie ist Mitgründerin und Vorsitzende von PAN Netherlands und seit vier Jahren in verschiedenen Pestizidprojekten in den Niederlanden und Deutschland aktiv.

[1] Hallmann C.A., Sorg M., Jongejans E., Siepel E., Hofland N., Schwan H., Stenmans W., Mueller A., Sumser H., Hoerren T., Goulson D., Kroon H. de, 2017. More than 75 percent decline over 27 years in total flying insect biomass in protected areas. PLOS ONE | https://doi.org/10.1371/journal.pone.0185809 October 18, 2017

[2] https://www.wecf.org/de/insektenbestaende-und-pestizidbelastung-in-naturschutzgebieten/

[3] https://www.wecf.org/de/schleichende-vergiftung-von-insekten-pestizide-in-naturschutzgebieten/

[4] Kruse-Plass M., Schlechtriemen U. & Wosniok, W. 2020. Pestizid-Belastung der Luft. Eine deutschlandweite Studie zur Ermittlung der Belastung der Luft mit Hilfe von technischen Sammlern, Bienenbrot, Filtern aus Be- und Entlüftungsanlagen und Luftgüte-Rindenmonitoring hinsichtlich des Vorkommens von Pestizid- Wirkstoffen, insbesondere Glyphosat. Tiem integrierte Umweltüberwachung. 1- 140.

[5] Pesticide Properties Database (PPPB), University of Hertfordshire (IUPAC) Website: https://sitem.herts.ac.uk/aeru/ppdb/en/atoz.htm

[6] Pesticide Action Network (PAN) Pesticides Database – Chemicals Website: http://www.pesticideinfo.org/Search_Chemicals.jsp

[7] PAN Germany (2021): Insektenschutzpaket vom Bundeskabinett beschlossen
PAN Germany Kommentar: „Das wirkliche Problem wird nicht angefasst.“ https://pan-germany.org/pestizide/insektenschutzpaket-vom-bundeskabinett-beschlossen/

 




Exportverbot für Hochgefährliche Pestizide (HHPs): UN-Sonderberichterstatter drängt die deutsche Regierung

In einem fünfseitigen Brief[1] an die deutsche Regierung erläuterte Dr. Marcos Orellana, UN-Sonderberichterstatter für die Auswirkungen giftiger Substanzen und Abfälle auf die Menschenrechte, die Notwendigkeit und die Möglichkeiten eines Exportverbots für HHPs.[2]

PAN Germany Pestizid-Brief 1 – 2021

Die Forderung nach einem Exportverbot für HHPs, die in der EU aus Umwelt- oder Gesundheitsgründen keine Genehmigung haben bzw. bereits verboten sind, fällt nicht vom Himmel. Wie bereits berichtet[3], ging Frankreich mit gutem Beispiel voran: Dort verbietet das Gesetz Nr. 2018-938 ab dem 01.01.2022 Produktion, Lagerung und Export von Pestiziden mit Wirkstoffen, die zum Schutz der Gesundheit bzw. der Umwelt in der EU nicht genehmigt sind.[4]

Auf internationaler Ebene gibt es den International Code of Conduct on Pesticide Management als globale Leitlinie für den Umgang mit Pestiziden. In dessen 2016 veröffentlichten Richtlinien zu den HHPs wird darauf hingewiesen, dass die „effektivste Möglichkeit“ zur Einschränkung der von HHPs ausgehenden Risiken „oftmals die Beendigung ihrer Nutzung durch gesetzliche Regelungen“ darstellt.[5] Das Problem ist, dass dieser Code of Conduct keine „Regulierung“ darstellt, wie das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) auf seiner Website suggeriert,[6] sondern nur Empfehlungen. Das ist der Grund, warum Dr. Marcos Orellana in seinem Brief die aktuellen Bemühungen in Deutschland begrüßt, die Empfehlungen des International Code of Conduct verbindlich zu machen und ein Exportverbot für verbotene Pestizide gesetzlich umzusetzen. Konkret handelt es sich bei diesen Bemühungen um den gemeinsam von den Fraktionen Bündnis90/Die Grünen und Die Linke im November 2020 eingebrachten Antrag „Gefährliche Pestizidexporte stoppen – Internationale Abkommen zum Schutz vor Pestizidfolgen stärken”.[7] Orellana unterstützt in seinem Brief die dort formulierten Vorschläge für die Bundesregierung, nämlich

  • „eine verbindliche Regelung zu erlassen, die den Export von Pestizidwirkstoffen, Zwischenprodukten und Pestizidformulierungen verbietet, die in der EU und/oder in Deutschland aus Umwelt- bzw. Gesundheitsgründen keine Zulassung oder Genehmigung haben;
  • ähnliche Maßnahmen auf EU-Ebene zu unterstützen;
  • eine strengere Regulierung auf globaler Ebene anzustreben, z. B. ein internationales Abkommen über das Lebenszyklusmanagement von Pestiziden;
  • die freiwilligen Verpflichtungen des International Code of Conduct on Pesticide Management in verbindliche Regulierungen umzuwandeln;
  • sich auf internationaler Ebene und im Rahmen einschlägiger internationaler Gremien für eine wirksame verbindliche Regulierung des Pestizidhandels einzusetzen, u.a. mit dem Ziel, ein unabhängiges Überwachungssystem über den Einsatz von Pestiziden und die daraus resultierenden negativen Gesundheits- und Umweltfolgen in Ländern des Globalen Südens zu etablieren.“

Orellana verweist auf die Berichte anderer Expert*innen bzw. Gremien der Vereinten Nationen, die ebenfalls auf die von Pestiziden ausgehenden Gefahren hinwiesen, so wie die Sonderberichterstatterin für das Recht auf Nahrung im Januar 2017,[8] und das Komitee für das Recht des Kindes.[9]

Während der Brief verschiedene internationale Aktivitäten der Bundesregierung im Bereich des Umweltschutzes lobt, wird sie zugleich aufgefordert, im eigenen Land aktiv zu werden, um „die verabscheuungswürdige Doppelmoral zu beenden, die aus dem Export von verbotenen hochgefährlichen Pestiziden resultiert“. Die Doppelstandards werden derzeit auf globaler Ebene durch den Export von Pestiziden oder anderen toxischen Substanzen praktiziert, wenn diese auf nationaler Ebene verboten sind. Sie verschärfen die Umweltungerechtigkeit und stellen diskriminierende Praktiken dar, die laut Orellana „gegen internationale Menschenrechte und Umweltstandards verstoßen. Solche Praktiken verhindern den vollen und gleichberechtigten Genuss der Menschenrechte eines jeden Menschen.“

In diesem Zusammenhang verweist der UN-Sonderberichterstatter darauf, dass einige europäische Länder diesem „alarmierenden Tatbestand“ bereits Rechnung getragen haben, und zwar mit der Begründung, dass eine Einschränkung der unternehmerischen Freiheit gerechtfertigt ist, wenn es Schäden für die menschliche Gesundheit und die Umwelt betrifft.

Solche Maßnahmen sind mit der Gesetzeslage in der EU kompatibel, was durch den Entwurf der EU-Kommission einer „Chemikalienstrategie für Nachhaltigkeit”[10] noch einmal unterstrichen wird. Dort steht unter den in Punkt 2.5.2. aufgelisteten, geplanten Maßnahmen der EU: „Vorangehen mit gutem Beispiel und im Einklang mit internationalen Verpflichtungen Gewährleistung, dass gefährliche Chemikalien, die in der Europäischen Union verboten sind, nicht für den Export hergestellt werden, erforderlichenfalls auch durch Änderung einschlägiger Rechtsvorschriften.“

Am Ende seines Schreibens drängt Marcos Orellana die Bundesregierung, die in dem Antrag der Grünen und Linken gemachten Vorschläge zu implementieren und ihn über Fortschritte in dieser Angelegenheit zu informieren.

Da sich in der Plenardebatte des Bundestags am 11.02.2021 auch Abgeordnete der Regierungsparteien für ein solches Exportverbot ausgesprochen haben,[11] sollte man hoffen, dass ein solches Gesetz in greifbarer Nähe ist.

(Dr. Peter Clausing)

[1] https://www.ohchr.org/Documents/Issues/ToxicWaste/Communications/OL-DEU-09-02-21.pdf

[2] Anm.: Wörtliche Zitate aus englischen Quellen sind eigene Übersetzungen

[3] https://pan-germany.org/download/kurzinformation-zu-hhps-und-doppelstandards-im-pestizidhandel/?ind=1613046461302&filename=FS_pestizidhandel_DE_210201_web.pdf&wpdmdl=2636&refresh=602df867caaf01613625447

[4] https://www.legif­rance.gouv.fr/dossierlegislatif/JORFDOLE000036562265/

[5] http://www.fao.org/3/i5566e/i5566e.pdf, Seite 14

[6]https://www.bvl.bund.de/EN/Tasks/04_Plant_protection_products/03_Applicants/13_LegalRegulations/03_InternationalAgreements/01_CodeOfConduct/ppp_intern_agreements_CoC_En_node.html

[7] https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/239/1923988.pdf

[8] https://undocs.org/en/A/HRC/34/48

[9] http://daccess-ods.un.org/access.nsf/Get?Open&DS=CRC/C/MEX/CO/4-5&Lang=E

[10] https://eur-lex.europa.eu/resource.html?uri=cellar:f815479a-0f01-11eb-bc07-01aa75ed71a1.0002.02/DOC_1&format=PDF

[11] Konkret waren es Peter Stein/CDU (https://www.bundestag.de/mediathek?videoid=7502170#url=L21lZGlhdGhla292ZXJsYXk=&mod=mod536668)
und Sascha Raabe/SPD (https://www.bundestag.de/mediathek?videoid=7502172#url=L21lZGlhdGhla292ZXJsYXk=&mod=mod536668)

Hintergrundinformationen:




Verbotene und gefährliche Pestizide in europäischen Lebensmitteln

Die EU-Pestizidverordnung (EC 1107/2009) gilt als eine der strengsten der Welt. Doch sie ist nicht streng genug, um sicherzustellen, dass verbotene Pestizide nicht in unsere Nahrung landen. Dies bestätigen neueste Untersuchungsergebnisse von PAN Europe.

PAN Germany Pestizid-Brief 2 – 2020

Basierend auf den offiziellen Rückstandsdaten der EU-Überwachung von Pestizidrückständen in Lebensmitteln konnte PAN Europe zeigen, dass 74 Pestizide, deren Verwendung in der EU aus Gesundheits- und Umweltschutzgründen verboten wurde, als Rückstände in 5811 Lebensmittelproben (6,2% aller getesteten Proben) gefunden wurden, wobei es sich in der Mehrzahl um pflanzliche Produkte (75,2%) handelte. Mehrfachbelastungen von bis zu 8 verschiedenen verbotenen Pestiziden wurden u.a. in Tees, Kräutern und Früchten nachgewiesen. In Europa verkaufte exotische Früchte wie Guaven (85%), Goji-Beeren (55%), Brotfrüchte (42%) und Cherimoyas (40%) stehen an der Spitze der Liste pflanzlicher Lebensmittel, die mit verbotenen Pestiziden belastet sind, gefolgt von Tees (37%), Pfefferkörnern (29%) und Korianderblättern (25%).

Auch das Gesamtbild der Pestizidrückstände in Lebensmitteln ist sehr besorgniserregend, da bei zwei Dritteln (68,7%) aller untersuchten Früchte Pestizidrückstände festgestellt wurden, und die Hälfte davon Mehrfachrückstände aufweisen (51,6%). Bei importierten Lebensmitteln liegen die Rückstände deutlich höher, als bei in der EU angebauten Lebensmitteln. Trotz der Vorgaben des EU-Rechts (EC 396/2005) werden die Auswirkungen von Pestizidmischungen in Lebensmitteln auf die menschliche Gesundheit von den Überwachungsbehörden nicht bewertet, so dass Verbraucher*innen vor der Exposition gegenüber diesen Chemikalien nicht geschützt sind.

Viele der in unseren Lebensmitteln nachgewiesenen verbotenen Pestizide können in der EU hergestellt worden sein. Denn obgleich ihre Anwendung in der EU verboten ist, dürfen Firmen in der EU diese Pestizide produzieren und exportieren. Auch Unternehmen in Deutschland profitieren von diesen Doppelstandards und nutzen auf diese Weise schwächere Gesetzgebungen in Drittländern aus, wie die Studie „Giftige Exporte“ von PAN Germany zeigen konnte. Eine neue Studie von Public Eye und Greenpeace Unearthed konnte belegen, dass 41 verbotene Pestizide von EU-Mitgliedstaaten in Drittländer exportiert werden. PAN Europe konnte nun zeigen, dass 22 von diesen ausgeführten, bei uns aus gutem Grund verbotenen Pestiziden, über Rückstände in Lebensmitteln zurück in die EU kommen.

Die Auswirkungen gefährlicher Pestizid, auf die menschliche Gesundheit und die biologische Vielfalt sind global. Ein wichtiger erster Schritt der EU auf dem Weg zu der in der Farm to Fork Strategie festgesetzten Übergang zu einem nachhaltigen Ernährungs- und Landwirtschaftssystem sollte sein, die Produktion und den Export verbotener Pestizide zu unterbinden und einen Null-Toleranz-Ansatz für solche Rückstände in Lebensmitteln einführen.

PAN Germany engagiert sich in Deutschland für ein gesetzliches Verbot des Exports verbotener Pestizide und unterstützt PAN Europe in der Forderung nach einer EU-weiten Regelung.

(Susan Haffmans)

Hintergrundinformationen:

PAN Europe (2020): BANNED AND HAZARDOUS PESTICIDES IN EUROPEAN FOOD

Public Eye (2020): Verbotene Pestizide: Die giftige Doppelmoral der Europäischen Union

PAN Germany  (2019): Giftige Exporte. Die Ausfuhr hochgefährlicher Pestizide von Deutschland in die Welt.




Mit Vielfalt und Solidarität durch die Krise

PAN Germany Pestizid-Brief 1 – 2020

Die letzten Monate haben uns auf besonders eindrückliche Weise vor Augen geführt, wie wichtig unser PAN-Motto „Eine gesunde Welt für alle“ tatsächlich ist. Seit Monaten behaupten sich die Menschen überall auf der Welt in der Covid-19-Krise und versuchen, mit der Pandemie und ihren Folgen zurechtzukommen. Während in einigen Ländern schrittweise Lockerungen der Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen umgesetzt werden und die Menschen wieder ein Stück Normalität erleben, schränken in anderen Regionen hohe Infektions- und Todeszahlen das Berufs- und Alltagsleben weiterhin ein. Wir alle haben unterschiedliche Erfahrungen in der Krise gemacht. Angesichts des Leids, das wir weltweit gesehen haben, sind wir voller Trauer. Doch wir sind auch beeindruckt von der großen Hilfsbereitschaft und Solidarität von Menschen überall auf der Welt.

Gegenseitige Hilfe rund um die Welt

Auch innerhalb unseres PAN-Netzwerks unterstützen wir uns gegenseitig. Unsere Partner*innen von PAN Asien & Pazifik (PANAP) helfen, die Folgen der Krise für die Ernährungssouveränität und Existenz von Millionen von Menschen in besonders betroffenen Gemeinschaften abzumildern. Sie machen sich unter anderem für die von der Krise und dem Lockdown besonders betroffenen Landarbeiter*innen stark und fordern die Einhaltung von Arbeitsrechten auch für Wanderarbeiter*innen. Im Rahmen ihrer gestarteten COVID-19-Kampagne „Food and Rights Talk“ hat PANAP zahlreiche Interviews geführt und zugehört, wie es den Menschen in den ländlichen Regionen in Asien in der Krise tatsächlich geht und wie ihre Situation ist, in Bezug auf Ernährungssicherheit und Menschenrechte.

In Afrika haben tausende Bio-Baumwollbäuer*innen Geld für Saatgut eingesetzt und Monate hart dafür gearbeitet, beste Baumwolle zu produzieren ohne schädliche Pestizide einzusetzen. Nun suchen unsere afrikanischen und englischen Kolleg*innen gemeinsam nach Lösungen für die Bäuer*innen und ihre Familien, die von unterbrochenen Lieferketten in der Textilbrache in Folge der Pandemie betroffen sind und unterstützen sie dabei, statt Baumwolle zu exportieren, Lebensmittel anzubauen und dafür lokale Märkte zu finden. Genau hierfür setzt sich auch PAN Afrika ein und sensibilisiert die Staaten Westafrikas für die Notwendigkeit eines widerstandsfähigen Ernährungssystems – insbesondere angesichts der Pandemie. Dabei unterstützen z.B. unsere Kolleg*innen in Senegal Landwirt*innen darin, widerstandsfähige, nachhaltigere Anbauverfahren umzusetzen, die gleichzeitig eine Steigerung der Produktion ermöglichen und so dazu beitragen, das Einkommen der Bäuerinnen und Bauern zu verbessern.

Agrarökologie stärkt die Widerstandsfähigkeit des Ernährungssystems

Es ist längst bekannt, dass agrarökologische Anbauweisen widerstandsfähiger auf Klimaveränderungen reagieren. Nun beweisen vielfältige Anbausysteme – wie der biologische Baumwollanbau, in dem Baumwolle in vielfältiger Fruchtfolge mit anderen Kulturpflanzen wie Hibiskus, Fonio, Cashew und Sesam abgebaut wird – auch angesichts der Covid-19 Krise, in der Absatzmärkte für bestimmte Güter plötzlich weggebrochen sind, größere Widerstandsfähigkeit.

Angesichts unterbrochener Lieferketten setzt sich PAN Lateinamerika (RAPAL) für die Förderung lokaler und agrarökologischer Nahrungsmittel-Produktion ein, indem sie das Wissen hierüber über Radioprogramme, Videos, Plakate, Webinare, Informations- Materialien und über Telefon-Schaltungen verbreitet. Hierzu zählt auch die Konzeption einer Reihe von Video-Workshops, um den urbanen Anbau von Nahrungsmitteln sowie die Eigenproduktion von Saatgut zu fördern.

Unsere Partner*innen von PAN Nord-Amerika (PANNA) setzen sich derweil dafür ein, dass Notgelder tatsächlich bei den Farmer*innen ankommen und nicht bei den großen Agrarkonzernen versickern. Sie arbeiten gemeinsam mit Partnern daran, Investitionen in resilientere Lebensmittelsysteme zu fördern, die die Förderung gesunder Böden genauso einschließen, wie die lokale Produktion von Lebensmitteln. Zudem  macht PANNA auf die besondere Betroffenheit landwirtschaftlicher Hilfskräfte in der Pandemie aufmerksam und setzt sich dafür ein, die systemischen Ungerechtigkeiten, die in unserem Nahrungsmittel- und Landwirtschaftssystem verankert sind, abzubauen.

Ein nicht-nachhaltiges, ungerechtes System

Ob in Amerika, Asien oder Europa – überall auf der Welt hat die Covid19-Pandemie die Schwachstellen unseres industriellen Ernährungssystems bloßgestellt. Das System der industriellen Tierhaltung wird schon lange wegen der schlechten Tierhaltungsbedingungen und der großen Mengen eingesetzter Arzneimittel kritisiert. Nun steht es, mit seinen riesigen Schlachthöfen, in denen im Akkord Tiere gekeult und zerlegt werden, auch wegen besonders hoher Infektionsraten bei den meinst prekär beschäftigten und schlecht untergebrachten Beschäftigten – ob in Deutschland in Nordrhein-Westfalen oder in den USA in Minnesota – im Fokus der Öffentlichkeit.

Andere Beschäftigte, die bislang kaum von der Gesellschaft bemerkt wurden, wie Wanderarbeiter*innen und landwirtschaftliche Hilfskräfte, wurden in der Krise plötzlich bzw. endlich als „systemrelevante Arbeitskräfte“ erkannt. Die Krise hat offenbart, wie schlecht wir mit diesen Arbeiter*innen umgehen, die oft ohne Verträge, ohne soziale Sicherung, häufig in Kontakt mit hochgefährlichen Pestiziden, unterbezahlt und ebenfalls schlecht untergebracht auf den Feldern und in den Plantagen und Gewächshäusern der Welt für unser aller Ernährung hart arbeiten. Vieles soll sich nun ändern. Als Vertreter*innen der Zivilgesellschaft engagieren wir bei PAN uns dafür, unseren Beitrag zu leisten, damit ein gerechteres Landwirtschaft- und Ernährungssystem Wirklichkeit wird.

Hierzu gehört, dass wir uns im PAN Netzwerk dagegen stemmen, dass die Pandemie ausgenutzt wird, um notwendige Reformen im Umweltschutz, im Biodiversitätsschutz und in der Agrarpolitik hinauszuzögern, zu verwässern oder gänzlich in Frage zu stellen.

Die Zukunft gestalten

RAPAL arbeitet aktiv daran, die Einfuhr neuer transgener Nutzpflanzen nach Chile zu blockieren und stemmt sich gegen eine Senkung von Importzöllen auf Pestizide in Argentinien. PANNA kämpft gegen die Zurücknahme wichtiger Pestizidvorschriften in den USA. Im gesamten Netzwerk unterstützen wir unsere Kolleg*innen von PAN UK in ihren Bemühungen, sicherzustellen, dass die britische Pestizidgesetzgebung nach dem „Brexit“ nicht gänzlich verwässert wird.

Gemeinsam mit unseren Partner*innen von PAN Indien freuen wir uns über die Ankündigung, dass 27 hochgefährlichen Pestiziden (HHPs) in dem Land verboten werden sollen. Hier in Europa engagieren wir uns im Verbund mit zahlreichen europäischen Partnerorganisationen und Unterstützer*innen in der Europäischen Bürgerinitiative „Bienen und Bauern retten“ und setzen uns dafür ein, dass die EU einen Wandel einleitet – weg vom Pestizideinsatz und hin zu agrarökologischen Anbauverfahren – und dabei die Landwirt*innen begleitet und unterstützt. Alle EU-Bürger*innen können dies mit ihrer Stimme einfordern: www.savebeesandfarmers.eu/deu/.

Die europäische Farm-to-Fork-Strategie für nachhaltige Lebensmittelsysteme und die neue EU-Biodiversitätsstrategie lassen uns hoffen. Sie verfolgt die Ziele, den Einsatz chemischer Pestizide und das damit verbundene Risiko bis 2030 um 50 % zu reduzieren, gefährlichere Pestizide um 50 % zu verringern und durch agroökologische Verfahren zu ersetzen sowie den Anteil ökologisch bewirtschafteter Flächen in der EU bis 2030 auf 25 % landwirtschaftlicher Nutzflächen zu erhöhen. Nun wird es darauf ankommen, dass entsprechende Maßnahmen beschlossen und tatsächlich umgesetzt werden.

Egal ob im Norden, Süden, Osten oder Westen – wir brauchen dringend den Wandel weg von der Abhängigkeit von chemisch-synthetischen Pestiziden hin zu vielfältigeren Anbausystemen, um nachfolgenden Generationen eine Umwelt zu hinterlassen, die nicht krankmacht und in der es genüg Vielfalt gibt, um gute Ernten zu erzielen und gut leben zu können.

(Susan Haffmans)

Der Artikel ist auch auf English verfügbar im PANNA-Blog unter dem Titel „A healthy world for all“