Angriff auf die Meinungsfreiheit: Anklage wegen öffentlicher Kritik an hohem Pestizideinsatz in Süd-Tirol

Weil sie sich kritisch über den massiven Pestizideinsatz in der Obstbauregion Südtirol geäußert haben, wurden Karl Bär vom Umweltinstitut München, der Autor und Filmemacher Alexander Schiebel („Das Wunder von Mals“) und der Geschäftsführer des oekom Verlags Jacob Radlof, angeklagt. Ihnen drohen Haft- und Geldstrafen nebst Schadenersatzforderungen in Millionenhöhe. Kommende Woche beginnt der Strafprozess. Auf der heutigen, von den Angeklagten ausgerichteten  Pressekonferenz in Bozen wurde deutlich: Die Kritiker*innen des intensiven Pestizideinsatzes werden sich nicht einschüchtern lassen. Was sie jetzt brauchen ist Solidarität und Unterstützung.

Die Anklage geht zurück auf die Anzeige des Südtiroler Landesrats für Landwirtschaft Arnold Schuler wegen „schwerer übler Nachrede“ im Jahr 2017. Mehr als 1300 Landwirt*innen aus Südtirol hatten sich der Anzeige angeschlossen. Die Zweifelhaftigkeit dieser Klage wird deutlich durch die Reaktion der Oberstaatsanwaltschaft München. Ein Ersuchen um Rechtshilfe der Bozener Staatsanwaltschaft lehnte diese ab mit Verweis auf die deutsche Rechtslage und das in Artikel 11 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verbriefte Recht auf Meinungsfreiheit. Dennoch hält die Staatsanwaltschaft Bozen an der Anklage fest. In der kommenden Woche, am 15.9.20, ist Prozess-Auftakt.

Mit auf dem Podium der Pressekonferenz heute war neben den Angeklagten, Vertreter der süd-tiroler Gemeinde Mals sowie der Anwalt von Karl Bär und Alexander Schiebel, Nicola Canestrini. Auch der Bürgermeister der Südtiroler Gemeinde Mals Ulrich Veith und Johannes Fragner-Unterpertinger, Sprecher der Bürgerinitiative „Der Malser Weg“, sahen sich Klagen ausgesetzt, nachdem sich die große Mehrheit der Bürger*innen der Südtiroler Gemeinde per Volksentscheid für Pestizidfreiheit entschied und die Gemeinde diese Forderung in ihrer Gemeindeverordnung umsetzte. Beide waren auf der heutigen Pressekonferenz vor Ort und zeigten Solidarität mit den Angeklagten. Ganz deutlich wurde heute: Die Klagen sind ein Angriff auf die Meinungs- und Pressefreiheit. Für den Oekom-Verlag ist es das erste Mal  seines über 30-jährigen Bestehens, dass er sich wegen eines von ihm publizierten Buches vor Gericht verantworten muss. Statt einer inhaltlichen Auseinandersetzung und eines gewünschten öffentlichen Diskurses über den Pestizideinsatz in der Region, wird mit den Klagen und den drohenden Strafen versucht, eine kritische Berichterstattung zu unterbinden.

Karl Bär vom Umweltinstitut München: „Wie sich zeigt, hat Südtirol nicht nur ein Pestizidproblem, sondern auch ein Demokratieproblem. Die Anzeigen und Klagen gegen uns entbehren jeder sachlichen Grundlage und haben nur ein Ziel: KritikerInnen des gesundheits- und umweltschädlichen Pestizideinsatzes sollen in Südtirol zum Schweigen gebracht werden. Der Prozess reiht sich ein in eine lange Reihe von haltlosen Klagen gegen AktivistInnen und PublizistInnen in Italien und in ganz Europa. Immer häufiger versuchen Unternehmen oder PolitikerInnen, auf diese Weise kritische Personen in ihrer Arbeit zu behindern und einzuschüchtern.“

Die Angeklagten sind nicht die einzigen, die sich mit solchen offensichtlich strategisch motivierten sogenannten SLAPP-Klagen konfrontiert sehen. SLAPP steht für „strategic lawsuit against public participation“, zu Deutsch „strategische Klage gegen öffentliche Beteiligung“. Laut Wikipedia steht das Akronym SLAPP „für eine rechtsmissbräuchliche Form der Klage, die den Zweck hat, Kritiker einzuschüchtern und ihre öffentlich vorgebrachte Kritik zu unterbinden“. Auch Greenpeace kennt das Problem solcher strategischer Klagen.

Rechtsanwalt Canestrini machte auf der Pressekonferenz ganz deutlich, dass strategische SLAPP-Klagen, die der Einschüchterung von „human rights defendern“ dienen, ein Problem dieser Zeit seien. „Die Wahrheit zu sagen ist und bleibt nach italienischem Recht kein Verbrechen. Sie ist ein grundlegender Bestandteil der Demokratie und eine der mächtigsten Waffen gegen Machtmissbrauch. Es ist ein Alarmsignal für die Rechtsstaatlichkeit, dass man wegen der Ausübung eines so wichtigen Grundrechts angeklagt wird. Wir werden in Bozen stellvertretend für alle UmweltaktivistInnen und JournalistInnen kämpfen, die im öffentlichen Interesse Missstände aufdecken. Und wir werden im Prozess beweisen, dass in Südtirol im Übermaß Pestizide ausgebracht werden und dass diese für Menschen, Tiere und die Umwelt gefährlich sind.“ so Rechtsanwalt Nicola Canestrini in der Gemeinsame Pressemitteilung des Umweltinstitut München mit Alexander Schiebel und dem oekom Verlag vom 08.09.2020.

Der Pestizideinsatz in der intensiven Obstbauregion in Südtirol ist hoch. Hier wurden dem italienischen Statistikamt ISTAT zufolge im Jahr 2018 sechs Mal mehr Pestizide verkauft als im landesweiten Durchschnitt. Und wie überall, wo Pestizide eingesetzt werden, verbleiben die eingesetzten Insektizide, Herbizide und Fungizide und ihre Wirkungen nicht auf die Einsatzflächen begrenzt, sondern gelangen mit dem Wind und über Verdunstung und Niederschlag in Gewässer, auch auf Nachbaräcker und weiter entfernte Flächen, selbst auf Grundschulfächen, Spiel- und Sportplätzen (PAN berichtete). Dieses Problem der Pestizid-Abdrift ist allseits bekannt. Bekannt ist auch, dass Pestizide schädliche Wirkungen auf die Umwelt und die Gesundheit von Anwender*innen, Anwohner*innen und Anrainer*innen haben können.

Was die Angeklagten jetzt brauchen, ist Solidarität und Unterstützung. Dabei geht es auch um Geld, denn die erzwungenen Prozesse sind teuer. Hier finden Sie Informationen, wie Sie helfen können.