PAN Germany Pestizid-Brief 3 â 2018
In Bolivien hat sich der Pestizideinsatz binnen 10 Jahren auf jĂ€hrlich 62.900 Tonnen mehr als versechsfacht. Eine jĂŒngst veröffentlichte Masterarbeit belegt, dass fast drei Viertel der in Bolivien zugelassenen Pestizide hoch toxisch sind und ein GroĂteil davon in der EU und in weiteren LĂ€ndern der Welt verboten ist. (1)
Die von der UniversitĂ€t Rockstock betreute Masterarbeit von Ulrike Bickel âUso de plaguicidas por productores familiares en Boliviaâ untersucht die Dimensionen, Einflussfaktoren und die sozio-ökonomischen und ökologischen Auswirkungen des Pestizideinsatzes in Bolivien. Der Arbeit zugrunde liegen eine empirische Fallstudie zu KleinbĂ€uerInnen in vier bolivianischen Ăkoregionen, Experteninterviews mit Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen und die Analyse wissenschaftlicher und politischer Erkenntnisse zum Pestizideinsatz in Bolivien samt akuten wie chronischen Vergiftungserscheinungen und der Auswirkungen auf die Ăkosysteme.
HerzstĂŒck der Arbeit ist ein Abgleich der in Bolivien zugelassenen Pestizide mit der Liste des Pestizid Aktions-Netzwerkes (PAN) ĂŒber hochgefĂ€hrliche Pestizide (engl.: highly hazardous pesticides, HHPs) (2) sowie der PAN Liste in anderen LĂ€ndern verbotener Pestizide (engl.: banned pesticides) (3) mit der ToxizitĂ€ts-Klassifikation der UN-Landwirtschafts- und Weltgesundheitsorganisationen FAO und WHO, mit EU-Verboten sowie der âSchwarzen Liste der gefĂ€hrlichsten Pestizideâ von Greenpeace. Dieser Abgleich ergab, dass fast drei Viertel der in Bolivien zugelassenen Pestizide hoch toxisch und ein GroĂteil davon in der EU und in weiteren LĂ€ndern verboten sind (vgl. (4)).
Mindestens 164 registrierte hoch gefÀhrliche Pestizide
Mehr als 70 % (mindestens 164) der 229 in Bolivien registrierten Pestizid-Wirkstoffe sind hoch gefĂ€hrlich aufgrund ihrer akuten oder chronischen ToxizitĂ€t fĂŒr die menschliche Gesundheit oder fĂŒr die Ăkosysteme. Obwohl fast die HĂ€lfte (105) dieser Substanzen in anderen LĂ€ndern verboten sind, autorisiert die zustĂ€ndige Behörde SENASAG (Nationaler Dienst fĂŒr landwirtschaftliche Gesundheit und Lebensmittelhygiene) diese hoch gefĂ€hr-lichen Pestizide. Einen Grund hierfĂŒr sieht die Autorin darin, dass die ZulassungsÂŹbehörde von den ZulassungsgebĂŒhren als Finanzierungsquelle ihrer Arbeit abhĂ€ngt. Allein zwischen Mitte Mai und Ende August 2018 stieg die Anzahl zugelassener Pestizide (Handelsnamen) von 2.190 auf 2.419, das sind durchschnittlich 3 neue Produktzulassungen pro Werktag.
Der Pestizideinsatz erfolgt willkĂŒrlich und chaotisch: Viele LandwirtInnen mischen hoch giftige Pestizidcocktails aus Insektiziden und Fungiziden, hĂ€ufig ohne die nötige Schutz-kleidung zu tragen (Brille, Schutzmaske, Schutzhandschuhe und -anzug, Gummistiefel), weil diese entweder zu unbequem, zu teuer, nicht fĂŒr das heiĂe Klima geeignet sind, weil sie ânichts fĂŒr starke MĂ€nnerâ seien oder weil sie beim Coca-Kauen stören.
Mangels flĂ€chendeckender Sammel- und Entsorgungsstellen werden groĂe Mengen leerer Pestizidcontainer nicht geordnet entsorgt. So kontaminieren und verschmutzen vermeintlich leere RestbehĂ€lter Höfe, GewĂ€sser, das Erdreich und die Ăkosysteme, ins-besondere in Regionen, in denen viele kleine und mittelstĂ€ndische LandwirtInnen leben. In der intensiv agrarindustriell genutzten Region um Santa Cruz gibt bzw. gab es zum Zeitpunkt der Recherche zumindest zeitweise Sammelprogramme fĂŒr PestizidbehĂ€lter.
Kleinbauern im Visier der Agrarchemie
KleinbĂ€uerInnen in vielen EntwicklungslĂ€ndern werden zunehmend zu Kunden der Agrarchemieindustrie und spritzen hoch giftige Pestizide, wie z.B. das wahrscheinlich krebserregende Glyphosat und das nervenschĂ€digende Herbizid Paraquat. Bolivien ist dabei kein Einzelfall. Die AnwenderInnen gefĂ€hrden ihr eigenes Leben, tragen zur Verschmutzung von Böden und GewĂ€ssern und zur SchĂ€digung nĂŒtzlicher Insekten bei und in der Folge zu einer fortschreitenden Destabilisierung von Ăkosystemen. Auch sind viele landwirtschaftliche Produkte, die auf den lokalen MĂ€rkten verkauft werden, mit PestizidÂŹrĂŒckstĂ€nden belastet.
Bei den Recherchen zeigte sich: Nicht nur die GroĂbetriebe im östlichen, von Soja- und anderen Exportkulturen geprĂ€gten Tiefland spritzt intensiv Pestizide. Auch KleinbĂ€uerÂŹInnen setzen zunehmend Pestizide ein. Diese Erkenntnis widerspricht der landlĂ€ufigen Darstellung, die kleinbĂ€uerliche Familienlandwirtschaft in EntwicklungsÂŹlĂ€ndern sei per se agrarökologisch, wirtschafte im Einklang mit der Natur und erzeuge gesunde Grund-nahrungsÂŹmittel. Die Studie konnte zeigen, dass dem in Bolivien nicht mehr so ist. Diese Entwicklung ist allerdings neu: Einer reprĂ€sentativen Untersuchung des bolivianischen Gesundheitsministeriums aus dem Jahr 2015 zufolge begann die Mehrheit der boliviani-schen LandwirtInnen erst vor weniger als 5 Jahren, Pestizide einzusetzen (38 %). Offensichtlich sind die KleinbĂ€uerInnen zusehends als KundInnen ins Visier der omni-prĂ€senten Pestizidimporteure geraten (Bolivien produziert selbst keine, sondern importiert alle Pestizide). ZusĂ€tzlich zu den legalen Importen wird circa ein Drittel der Pestizide illegal ins Land geschmuggelt. Dies ist möglich, weil die staatlichen Kontrollen an den Grenzen sowie auf MĂ€rkten defizitĂ€r sind und Sanktionen fehlen. Illegal heiĂt zum Beispiel: nicht zugelassene Substanzen, Pestizide mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum oder umetikettierte Ware in anderen als den Original-BehĂ€ltnissen, falsche oder fehlende Etiketten und vielfach falsch angegebene ToxizitĂ€tsklasse.
Ursachen des gestiegenen Pestizideinsatzes
Ursachen des stark gestiegenen Pestizideinsatzes in Bolivien sind der Masterarbeit zufolge zum einen das Fehlen eines angepassten, flĂ€chendeckenden bĂ€uerlichen Ausbildungssystems; die vorwiegend konventionelle Orientierung der universitĂ€ren AgrarfakultĂ€ten; weiterhin eine nahezu inexistente staatliche Agrarberatung â ein Vakuum, das die Pestizidkonzerne und -hĂ€ndler mit ihrer Propaganda und dezentralen PrĂ€senz ausfĂŒllen â sowie im ungenĂŒgenden Pestizidzulassungs- und Kontrollsystem der staatlichen Behörde fĂŒr Lebensmittelsicherheit SENASAG, die finanziell von den ZulassungsgebĂŒhren abhĂ€ngt, die die Pestizidkonzerne zahlen.
Da es keine regelmĂ€Ăige staatliche Agrarberatung gibt (mit Ausnahme erratischer konÂŹven-tioneller staatlicher Programme fĂŒr Kartoffel- und GemĂŒseanbau, die meist kurz vor Wahlen in entlegenen Regionen initiiert werden), suchen viele ProduzentInnen den Rat der PestizidhĂ€ndler, die im eigenen Interesse eines gesteigerten Pestizidabsatzes beÂŹraÂŹten. Ein öffentliches landwirtschaftliches Ausbildungs- und Agrarberatungssystem, das flĂ€chendeckend fĂŒr alle KleinbĂ€uerInnen â auch mit niedrigem Schulbildungsniveau â zugĂ€nglich wĂ€re und das unabhĂ€ngig vom Profitinteresse der PestizidhĂ€ndler berĂ€t, fehlt in Bolivien.
Pestizid-Vergiftungen gehören zum traurigen Alltag
Fast die HĂ€lfte der vom bolivianischen Gesundheitsministerium im Jahr 2015 befragten 4.125 BĂ€uerInnen Ă€uĂerte, bereits akute Vergiftungssymptome wĂ€hrend oder kurz nach der Pestizidanwendung erlitten zu haben. Der Wissensstand bei KleinbĂ€uerInnen insbe-sondere ĂŒber die chronischen Langzeitfolgen des Pestizideinsatzes fĂŒr ihre Gesundheit und die Ăkosysteme ist jedoch sehr gering. Die Masterarbeit hat verfĂŒgbare wissenschaftliche Studien und Erkenntnisse ausgewertet, denen zufolge die Exposition gegenĂŒber Agrar-giften zu schweren Krankheiten wie Krebs, Alzheimer, Parkinson, hormonelle Störungen, Degradierung des Nervensystems, Fehlgeburten, Missbildungen, EntÂŹwickÂŹlungsÂŹstörungen sowie SterilitĂ€t/Unfruchtbarkeit fĂŒhren kann. Die Autorin wurde bei ihrer Feldforschung in lĂ€ndlichen Regionen auch mit solchen Krankheitsbildern konfrontiert.
Mangelnde RĂŒckstandskontrollen
Zur direkten Pestizid-Exposition der LandwirtInnen, ihrer Familienmitglieder und der AnwohnerInnen hinzu kommt das Risiko fĂŒr KonsumentInnen, Nahrungsmittel zu essen, die mit PestizidrĂŒckstĂ€nden belastet sind. Bei Lebensmittelkontrollen auf bolivianischen MĂ€rkten wurden wiederholt z.B. Tomaten und Salat mit RĂŒckstĂ€nden hoch giftiger Pestizide weit oberhalb der erlaubten Grenzwerte gefunden. GemĂŒseverkĂ€uferinnen auf dem Markt in Comarapa (Departamento Santa Cruz) benutzten den schönfĂ€rberischen Satz: âHier ist alles geheilt (aquĂ todo estĂĄ curado)â, d.h. pestizidbehandelt.
Eine behördliche LebensmittelĂŒberwachung auf PestizidrĂŒckstĂ€nde mit Kontroll- und Monitoringsystem findet nicht statt. Hier wird die zustĂ€ndige Behörde SENASAG ihrem expliziten Auftrag nicht gerecht, die âUnbedenklichkeit von Nahrungsmittelnâ zu gewĂ€hrleisten. Ein âinterministerielles Komitee fĂŒr Pestizideâ, bestehend aus Landwirtschafts-, Gesundheits- und Umweltministerium, hat vor zwei Jahren langsam seine Arbeit aufgenommen und plant, kĂŒnftig bei beantragten Wieder- und Neuzu-lassungen von Pestiziden deren Gesundheits- und Umweltauswirkungen zu analysieren. Dem entgegen steht die oben skizzierte reale Zulassungspraxis des SENASAG von circa 3 Neuzulassungen pro Arbeitstag.
Gefangen im Pestizid-Teufelskreis
In ökologischer und auch ökonomischer Hinsicht sind konventionell wirtschaftende LandwirtInnen in einem Teufelskreis (âpesticide treadmillâ): Je mehr Pestizide und MineraldĂŒnger sie einsetzen, desto mehr nimmt der Befall ihrer Kulturen mit SchĂ€dlingen und Pflanzenkrankheiten zu. Dies ist gleichsam ein Symptom der wachsenden InstabilitĂ€t der Ăkosysteme. Darum sehen sich die BĂ€uerInnen gezwungen, immer mehr, immer giftigere und teurere Pestizide zu kaufen, wĂ€hrend die niedrigen Produktpreise am Ende oft nicht einmal ihre eingesetzten âInputsâ decken, geschweige denn ihre Arbeitskraft. Manche BĂ€uerInnen verschulden sich, da die AgrarchemiehĂ€ndler ihnen Saatgut, KunstdĂŒnger und Pestizide vorab auf Kreditbasis stellen.
Agrarökologie als Ausweg
Als nachhaltige Alternative, die geeignet ist, eine giftfreie Produktion gesunder Nahrungsmittel zu gewĂ€hrleisten, wird in der Masterarbeit das Konzept der Agrarökologie vorgestellt. Dieses wird von den rund 60 Mitgliedsorganisationen der bolivianischen Bodenschutzplattform (Plataforma Nacional de Suelos) und einer Minderheit der bolivianischen AgrarfakultĂ€ten propagiert, unterstĂŒtzt von internationalen Bewegungen wie âLa vĂa campesinaâ, dem Welt-Dachverband von KleinbĂ€uerInnen, sowie von der UN-Landwirtschafts- und ErnĂ€hrungsorganisation FAO. Agrarökologie bezeichnet â als Gegenbegriff zur industriellen, konventionellen und chemieintensiven Landwirtschaft â eine Orientierung der Wissenschaft, der sozial-ökologischen Bewegungen und der landwirtschaftlichen Praxis am langfristigen Erhalt der Ăkosysteme (5). Zu den Elementen der Agrarökologie zĂ€hlen Recycling und Optimierung von NĂ€hrstoffen und Energie innerhalb des landwirtschaftlichen Betriebes, die Integration von Ackerbau und Viehzucht, die StĂ€rkung der biologischen Vielfalt, die Interaktionen und Synergien, die Vermeidung von Chemikalien und anderen Technologien mit negativen Auswirkungen auf Umwelt und vieles mehr.
Handlungsempfehlungen
Basierend auf den Recherche- und Analyse-Ergebnissen formuliert die Autorin eine Reihe von Handlungsempfehlungen, um die Situation in Bolivien nachhaltig zu verbessern:
âą Reform des bolivianischen Pestizid-Zulassungssystems mit dem Ziel, die Behörde SENASAG finanziell unabhĂ€ngig von den GebĂŒhren der Agrarchemiekonzerne zu machen.
⹠Durchsetzung des Verbots von Importen und des Verkaufs hoch gefÀhrlicher Pestizide (HHPs).
⹠Konsequente agrarökologische Umorientierung der Produktion, der universitÀren Lehre und der Agrarforschung.
âą IndustrieunabhĂ€ngige landwirtschaftliche Ausbildung und staatliche Agrarberatung fĂŒr ProduzentInnen.
⹠FlÀchendeckende Sammlung und sichere Entsorgung von PestizidbehÀltern.
âą Effektive MaĂnahmen gegen den Handel mit illegalen Pestiziden.
âą EinfĂŒhrung eines regelmĂ€Ăigen Gesundheitsmonitorings fĂŒr Pestizid-Anwender und die Dokumentation von Pestizid-Vergiftungen.
âą Schaffung eines effizienten regulatorischen Rahmens zum Schutz besonders gefĂ€hrdeter Gruppen, die gegenĂŒber Pestiziden am sensibelsten reagieren und die am verletzlichsten sind, wie Kinder, schwangere Frauen, indigene Völker, LandwirtInnen, LandarbeiterInnen sowie ArbeitsmigrantInnen.
âą StĂ€rkung der âOmbudsstelle der Mutter Erdeâ (DefensorĂa de la Madre Tierra) und des Agrarumweltgerichtshofs (Tribunal Agroambiental) und ihrer unabhĂ€ngigen Arbeit.
(Ulrike Bickel)
Die Autorin Ulrike Bickel ist Agrar- und Umweltwissenschaftlerin und arbeitet seit mehr als 20 Jahren in der Entwicklungszusammenarbeit mit Lateinamerika.
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Quellen
(1) Bickel, U. (2018): Uso de plaguicidas por productores familiares en Bolivia. www.welt-ernaehrung.de/wp-content/uploads/2018/11/Plaguicidas-en-Bolivia_tesis-UBickel.pdf.
(2) PAN International List of highly hazordous pesticides (March 2018) https://pan-germany.org/download/pan-international-list-of-highly-hazardous-pesticides/#
(3) PAN International Consolidated List of Banned Pesticides von 2017 http://pan-international.org/pan-international-consolidated-list-of-banned-pesticides/
(4) Plaguicidas altamente tĂłxicos en Bolivia. Technical Report July 2018 https://www.researchgate.net/publication/326300001_Plaguicidas_altamente_toxicos_en_Bolivia
(5) Symposium: Agrarökologie im groĂen Stil fĂŒr Agrar- und ErnĂ€hrungswende (April 2018) https://www.weltagrarbericht.de/aktuelles/nachrichten/news/de/33127.html