Recherche bestätigt: Baumwollfarmer in Tansania stark von Pestizidvergiftungen betroffen

Von den 1074 im Rahmen einer neuen Studie[1] befragten Beschäftigten im Baumwollanbau in Tansania gaben 48 % an, innerhalb von 24 Stunden nach der Pestizidexposition gesundheitliche Beeinträchtigungen erlitten zu haben. Die Angaben beziehen sich auf das Jahr 2024. Nur 6 % der gesundheitlich Betroffenen ließen sich medizinisch behandeln. Die Daten bestätigen das Ausmaß von Pestizidvergiftungen und zeigen auch, wie sehr Schätzungen, die einzig auf Grundlage von Krankenakten erfolgen, das Vergiftungsproblem unterschätzen.

Zu den von den Betroffenen berichteten Gesundheitswirkungen zählten starke Kopfschmerzen (48 %), unnatürliches Kribbeln/Taubheit der Haut (48 %), Muskelschwäche, Zittern oder gestörte Bewegungen (20 %), Sehstörungen (17 %) und Lähmungen (3 %).

Bei den Vergiftungsfällen fielen vier Pestizide besonders auf: Über 80 % der Vorfälle ereigneten sich nach Expositionen mit Profenofos, Lambda-Cyhalothrin sowie Mischungen aus Chlorpyrifos und Cypermethrin. Alle vier Wirkstoffe finden sich auf der PAN Liste der hochgefährlichen Pestizide[2].

Profenofos und Chlorpyrifos sind Organophosphat-Insektizide, die u.a. schädliche Auswirkungen auf das Nervensystem haben. Jedes von ihnen ist bereits in mindestens 39 Ländern der Welt verboten. Zu den schwerwiegenderen gesundheitlichen Auswirkungen, über die in der aktuellen Studie berichtet wurde, gehören extreme Unruhe, Bewusstseinsverlust und Krampfanfälle.

Chlorpyrifos steht wegen seiner Persistenz und seiner gesundheits- und umweltschädigenden Wirkungen derzeit international besonders im Fokus: Auf den jetzt beginnenden Vertragssaatenkonferenzen der Stockholm und der Rotterdam Konvention in Genf (30.4. – 9. Mai) wird darüber entschieden, ob das Insektizid in die Anhänge der internationalen Übereinkommen aufgenommen und damit weltweit strenger reguliert bzw. verboten wird.[3] Chlorpyrifos wirkt schädigend auf die Gehirnentwicklung von Kindern und das bereits, wenn diese sich noch im Mutterleib befinden. Es ist zudem in der Umwelt persistent und verbreitet sich über weite Entfernungen. So können seine Auswirkungen Tausende von Kilometern vom Einsatzort entfernt auftreten und selbst in der Arktis Menschen, Tierwelt und Umwelt kontaminieren.

Lambda-Cyhalothrin wurde offiziell als „tödlich beim Einatmen“ eingestuft, es bewirkt Haut- und Augenreizungen, zudem sind Auswirkungen auf die Atemwege weit verbreitet.[4]

Mehr Informationen zu den Forderungen von PAN für die diesjährige BRSCOP:

https://pan-international.org/brs-cop-2025/

 

Mehr Informationen zur Baumwollstudie:

Press Release from PAN UK: https://www.pan-uk.org/site/wp-content/uploads/Pesticide_poisoning_cotton_farmers_Tanzania_PR_Final.pdf

[1] Kapeleka et al. (2025) Assessment of Unintentional Acute Pesticide Poisoning (UAPP) Amongst Cotton Farmers in Tanzania, Toxics, 13(4) https://www.mdpi.com/2305-6304/13/4/300 https://doi.org/10.3390/toxics13040300

[2] https://pan-international.org/wp-content/uploads/PAN_HHP_List.pdf

[3] Chemicals proposed for listing under the Stockholm Convention https://pops.int/TheConvention/ThePOPs/ChemicalsProposedforListing/tabid/2510/Default.aspx

[4] Naveen et al. (2023) Lethal neurotoxicity in lambda-cyhalothrin poisoning, The American Journal of Forensic Medicine and Pathology, 44(1). https://journals.lww.com/amjforensicmedicine/abstract/2023/03000/lethal_neurotoxicity_in_lambda_cyhalothrin.9.aspx DOI: 10.1097/PAF.0000000000000789

 




Zurückziehung der globalen Vergiftungsstudie – PAN Gemany informiert

Der am 07. Dezember 2020 im Fachjournal BMC Public Health veröffentlichte Artikel The global distribution of acute unintentional pesticide poisoning: estimations based on a systematic review von Boedeker et al. wurde am 09. Oktober 2024 von BMC Public Health zurückgezogen. Grundlage für die Zurückziehung des Artikels ist der Vorwurf einer Überschätzung der jährlichen globalen Zahl an unbeabsichtigten Pestizidvergiftungen wegen angeblicher Vermischung von Zahlen, die sich auf jährliche Vergiftungen beziehen und solchen, aus denen nicht klar hervorgeht, ob es sich um jährliche Vergiftungen handelt. Daraus wurde – ohne Nachweis – eine Überschätzung der ermittelten Vergiftungszahlen abgeleitet.

Hervorzuheben ist, dass die in der Publikation verwendete Methodik der Daten-Extraktion und -Extrapolation, detailliert beschrieben wurde, zur Zufriedenheit der Reviewer, die das Manuskript vor der Veröffentlichung begutachtet hatten. Die Zurückziehung des Artikels durch das Fachmagazin erfolgte, obwohl der unterbreitete Vorwurf mit einer ausführlichen Erwiderung durch die Autor*innen widerlegt wurde. Eine detaillierte Antwort des Journals auf diese Erwiderungen blieb aus.

Ein zentraler Punkt in der Auseinandersetzung um die Höhe der ermittelten Vergiftungszahlen waren die Begriffe „annual“ (jährliche Vergiftungen) und „history of poisonings“, die von den Kritikern einseitig als „once in lifetime“ (auch „ever“ genannt) umgedeutet wurden. Wie in der ausführlichen Gegendarstellung (Rebuttal) der Autor*innen dargestellt, kann sich „history of poisonings“ durchaus auch auf mehrfache Vergiftungen innerhalb eines Jahres beziehen. Dies wurde unter anderem in der Studie von Tomeson & Matthews (2009) für Kamerun dokumentiert. Die darin erfasste „history of poisonings“ der 154 Studienteilnehmer bildeten durchschnittlich 9,2 Vergiftungen pro Jahr ab.

Der Vorwurf, die jährliche globale Vergiftungszahl sei überschätzt worden, bezieht sich auf eine angebliche Überschätzung bei den Berechnungen der Vergiftungszahlen für Frankreich und fünf „andere Länder“. Erst nach mehrfachen Rückfragen durch die Autor*innen wurden diese fünf Länder (von insgesamt 141) durch das Journal offengelegt. Es handelte sich um Kamerun, UK, Nigeria, Tansania und Zimbabwe. Eine Überprüfung der Daten ergab, dass für 3 dieser Länder bei alleiniger Verwendung von Publikationen, die dem Kriterium „annual“ entsprachen, der ermittelte Gesamtwert der Vergiftungen in einem Fall genauso hoch und zweimal sogar höher lag als bei Einbeziehung der Studien, die im Verdacht standen „once in lifetime“-Daten zu präsentieren. Ein Ausschluss der zwei verbleibenden Länder (UK, Zimbabwe), für die jeweils nur eine Studie vorlag, hätte eine Reduzierung der berechneten globalen Vergiftungszahl um lediglich 0,6% bedeutet.

Eine detaillierte Auflistung der Widersprüche, in die sich das anonyme Mitglied des Editorial Boards des Journals bei seinen, teils falschen, teils nebulösen Begründungen verstrickt, ist der ausführlichen englischsprachigen Gegendarstellung (Rebuttal) vom 10.10.2024 zu entnehmen.

Es ist auffallend und irritierend, dass sich die Begründung der vollzogenen Zurückziehung der Publikation auf den Letter to the Editor von Dunn et al. (2021) bezieht, obwohl bei Dunn et al. das Thema „once in lifetime“ versus „ever“ gar keine Rolle spielte. Dieser Letter to the Editor, verfasst von Vertreter*innen von Bayer CropSience und CropLife, enthält nichts, was den von der Herausgeberin genannten Grund für die Zurückziehung unterstützen würde. Und während der Letter to the Editor der Vertreter*innen der Pestizidindustrie auf der Seite des BMC Public Health mit dem „RETRACTED ARTICLE“ veröffentlicht wurde, findet man dort nicht die ausführliche Erwiderung der Autor*innen, in der die Vorwürfe von Dunn et al. (2021) Punkt für Punkt widerlegt und als unbegründet bzw. falsch zurückgewiesen wurden. Die Erwiderung der Autor*innen steht auf einer anderen Seite des Journals.

Die Auseinandersetzung um den Artikel wurde durch die an die Herausgeberin gerichtete Bemerkung eines anonymen Lesers ausgelöst, die bei einem ebenfalls anonym gebliebenen Mitglied des Beirats der Zeitschrift „fehlendes Vertrauen“ in die Publikation bewirkte. Ein transparenter Austausch mit den Autor*innen zur Klärung der geäußerten Bedenken wurde vom Journal offenkundig nicht gewünscht, der Umgang des Journals in dieser Auseinandersetzung hat dies unterbunden. Die prominente Veröffentlichung der Industrie-Meinung und das „Verstecken“ der Reaktion der Autor*innen hierauf an eine andere Stelle, werfen ein sehr schlechtes Licht auf den Umgang des Fachjournals mit den publizierenden Wissenschaftler*innen und erweckt zumindest den Eindruck fehlender Neutralität.

Auch wenn der Artikel zurückgezogen wurde, das Problem und das Ausmaß weltweiter Pestizidvergiftungen bleibt bestehen und Maßnahmen zur Verhinderungen solcher Vergiftungen müssen umgesetzt werden. Mit seinem Engagement für ein Ende der Verwendung hochgefährlicher Pestizide und der Förderung nicht-chemischer, (agrar)ökologischer Anbauweisen zeigt PAN hierfür einen Weg auf.

Der Artikel The global distribution of acute unintentional pesticide poisoning: estimations based on a systematic review bleibt auf der BMC Public Health Webseite verfügbar und kann – mit dem Hinweis auf die Retraction – weiter zitiert werden. Hierbei sind die Regeln zum Zitieren eines zurückgezogenen Artikels zu beachten (nachfolgender Beitrag dazu erklärt die Regeln hierfür).

 

Zum Vertiefen:

Boedeker, W., Watts, M., Clausing, P. et al. RETRACTED ARTICLE: The global distribution of acute unintentional pesticide poisoning: estimations based on a systematic review. BMC Public Health 20, 1875 (2020). https://doi.org/10.1186/s12889-020-09939-0

Retraction note: https://doi.org/10.1186/s12889-020-09939-0

Response by the Authors to the Letter to the editor: https://bmcpublichealth.biomedcentral.com/articles/10.1186/s12889-021-11941-z

Ausführliche Gegendarstellung (Rebuttal by the authors): https://pan-germany.org/download/rebuttal-by-the-authors-of-the-retraction-of-the-article-on-the-global-distribution-of-unintented-acute-pesticide-poisoning/

 

Medienreaktion:

TAZ: Jost Maurin, 29.11.2024: Streit über Studie zu massenhaften Pestizidvergiftungen
Fachmagazin zieht Analyse zurück: Streit über Studie zu massenhaften Pestizidvergiftungen | taz.de

DFL: Daniela Siebert, 13.11.2024. Streit um Zahl der Pestizidvergiftungen weltweit https://www.deutschlandfunk.de/streit-um-zahl-der-pestizidvergiftungen-weltweit-dlf-e975bd15-100.html

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